Schnaufend rennt Laura (Felicitas Woll) durchs Watt. Schritt um Schritt. Der Blick des Zuschauers schweift mit über die endlose schlammige Weite und fast möchte man sinnieren: Im Watt ist es manchmal wie im Leben. Man kann ackern und ackern, aber trotzdem das Gefühl haben, dass da keine Chance ist. Keine Möglichkeit, weiter zu kommen. Kilometer um Kilometer gerannt, aber um einen herum, wo weiterhin nur Watt ist, hat sich nichts geändert. Ein Gefühl, dass auch Wolls Laura im Laufe der Serie noch kennenlernen soll. Das Watt ist einer der wenigen lokalen Bezüge in einer Sat.1-Serie, die im hohen Norden der Bundesrepublik angesiedelt ist, abseits einiger sparsam gesäten Passagen aber eigentlich überall spielen könnte. Das mag auch daran liegen, dass "Du sollst nicht lügen" eine relativ passgenaue Adaption der Serie "Liar" (ITV/SundanceTV) ist. Astrid Ströher und Dirk Morgenstern bedienten sich bei den Büchern an der Vorlage von Harry und Jack Williams. Das Original lief in Deutschland 2018 mit mageren Quoten bei Vox.

Chancenlos zu sein, gegen (dunkle) Mächte anzukommen, das ist das Hauptthema der vierteiligen Miniserie, die Sat.1 zu zwei Fernsehfilmen zusammengefasst hat. Dass hier schnell Felicitas Woll ins Spiel kommt, dürfte nicht verwundern. Es muss eine Liste geben, beim Münchner Sender, für weibliche, starke Hauptfiguren in großen Eventmovies zu schweren Themen – und die Homburgerin muss auf dieser wohl ganz oben stehen. 2015 war sie an der Seite von Marcus Mittermeier im Film "Die Ungehorsame" (zum Thema häusliche Gewalt) zu sehen, zwei Jahre später als besorgte und kämpfende Mutter im Cyber-Mobbing-Streifen "Nackt. Das Netz vergisst nie". Ebenfalls 2017 ermittelte Woll als Doro Karg rund um "Das Nebelhaus", der Verfilmung eines Eric-Berg-Romans.

Du sollst nicht lügen © SAT.1/Christine Schröder Mit einem gemeinsamen Abend und einem Glas Wein beginnt die Geschichte.

Ein Nebelschleier liegt gewissermaßen zunächst auch in "Du sollst nicht lügen" über dem Geschehen. Woll ist diesmal die Lehrerin Laura, frisch getrennt und eigentlich nicht auf der Suche. Ihr Ex hat gerade erst sehr bedeutungsschwanger den Schlüssel auf den Küchentisch gelegt und ist mit einem großen Umzugskarton von dannen gezogen. Der Vater einer ihrer Schüler, zudem angesehener Arzt, lädt sie kurz darauf zu einem Abendessen ein. Nach dem Essen und vor Lauras Haustür stehend, ist der Handy-Akku von Hendrik (Barry Atsma) leer. Sie bietet ihm nicht nur Strom, sondern auch noch ein Gläschen Wein an.

Als sie dann am nächsten Morgen aufwacht, weiß sie, dass etwas nicht stimmt. Die Erinnerungen sind nur bruchstückhaft. Irgendetwas ist passiert. Etwas, von dem sie sich sicher ist, dass sie es nicht wollte. Während sich in ihr die Meinung manifestiert, unter KO-Tropfen gesetzt und dann vergewaltigt worden zu sein, spricht kurz darauf der geschockte und von Ermittlern mitten aus einer OP geholte Hendrik bei den Vernehmungen in großzügig gehaltenen Polizeihallen von einvernehmlichen Sex. Und für Laura beginnt spätestens dann der Spießrutenlauf, als Hendrik sie auf Unterlassung verklagt.

Regisseur Jochen Alexander Freydank ("Spielzeugland") versteht es sehr gut, Nähe und Weite, zugleich aber auch große Unruhe aller Beteiligten, einzufangen. Er stützt sich dabei auf die herausragende Kameraarbeit des krimi-erfahrenen Andreas Doub (unter anderem "Der Kriminalist", "Erzgebirgskrimi" oder "Nord bei Nordwest"). Immer wieder nimmt der Zuschauer nur die Beobachterrolle ein, in dem die Kamera gar nicht im Raum des Geschehens ist, sondern durch regennasse Fensterscheiben linst oder sich hinter Treppengeländern versteckt. Immer wieder sind es die Hände, die in Großaufnahme zu sehen sind. Hände, die mal gestikulieren, mal ruhig ineinander liegen. Hände, die vorher angefasst haben, was sie nicht anfassen sollten? Hände, die nicht imstande waren, etwas Schlimmes abzuwehren?

Du sollst nicht lügen © Sat.1 / Christine Schröder Barry Atsma (links) spielt Hendrik Voss schlicht überragend. Ist er wirklich unschuldig? 'Sie müssen mir glauben', sagt die Figur.

In den ersten zwei Episoden werden Rückblicke aus jener verhängnisvollen Nacht wieder und wieder eingestreut. Was wirklich im Bett von Laura passierte, sieht der Zuschauer aber nicht. Eine logische und richtige Entscheidung, schließlich sind diese Szenen auch in Laura kaum mehr präsent. Und die Geschichte folgt in erster Linie eben ihr. Felicitas Woll überzeugt als Otto-Normal-Lehrerin, der mehr und mehr der Boden unter den Füßen wegbricht. Heimlicher Star der Miniserie ist aber ohne Zweifel Barry Atsma, der schon für seine Performance als Chef der Investmentabteilung in "Bad Banks" (ZDF) Lob abräumte. Der Niederländer schafft es, seine Figur undurchschaubar und facettenreich zu spielen -  mal wirkt er geheimnisvoll und gruselig berechnend, mal sympathisch und ehrlich, ja geradezu naiv. Als Zuschauer ist man hin und her gerissen – zu verzweifelt wirkt Laura, als dass sie sich das Ganze hätte ausdenken können – und doch neigt man gleichzeitig dazu, Hendrik zu glauben, wenn er lächelt oder die Hände vor dem Kopf zusammenschlägt und den Polizisten sagt: "Sie müssen mir glauben." Atsmas facettenreiches Spiel ist beeindruckend und bereichernd.

Die Miniserie wandelt sich in ihrer zweiten Hälfte. Der Nebel löst sich auf, es entwickelt sich ein regelrechter Thriller um Macht und Machtlosigkeit. Laura muss also wieder ins Watt. Zunehmend gezeichnet vom Verlauf der Dinge läuft und läuft sie – immer noch scheinbar ohne voranzukommen. Die Produktion aus dem Hause Filmpool Fiction kommt derweil über die komplette Laufzeit von rund 180 Minuten sehr gut und konsequent voran, vielleicht auch, weil sie gegenüber dem Original an einigen Stellen gestrafft wurde ("Liar" besteht in der hier erzählten Fassung aus sechs Episoden). Gerade in der letzten halben Stunde aber verlässt sich die Story ein wenig zu sehr auf sehr gängige Plots – um dann am Ende mit einer Überraschung die Tür für eine zweite Staffel aufzustoßen.

Zumindest das Original wurde mit einer ebenfalls sechsteiligen zweiten Staffel zu Ende erzählt. Eine Fortsetzung hätten alle Beteiligten von "Du sollst nicht lügen" zweifelsfrei verdient, bleiben doch Fragen in der Handlung offen, für deren Klärung man den Protagonisten gerne weiter folgen würde. Offen ist aber auch, ob das Publikum diesen Stoff in Sat.1 auch findet. Denn man kann nun wahrlich nicht behaupten, dass es eigenproduzierte Thriller im Programm des Senders wie Schlick im Watt gibt. Schade eigentlich, wenn man sieht, was möglich ist. 

"Du sollst nicht lügen", am Dienstag, 9. Februar und Mittwoch, 10. Februar, ab 20:15 Uhr in Sat.1 und schon vorab bei JoynPlus+.