Falls Gott existiert und seine Schöpfung auch mal bestrafen will – in strenger Stimmung hätte er vermutlich nicht die Hölle erschaffen, den HSV oder Herpes. Es wäre wohl eher ein Sound, der uns mittlerweile praktisch überall foltert: Auto-Tune. „Für mich“, klagt der große Beatle Paul McCartney über die Tonhöhenkorrektur aus dem Rechner, „klingt das nach Betrug“. Für ihn, setzt sein Epigone Nick Rhodes von Duran Duran noch eins drauf, „ist es der Feind moderner Musik“. Was die Songwriterin King Princess aus New York mit der Forderung verbindet: „Fuck Auto-Tune!“

Die elektronische Stimmverzerrungstechnik, seit Chers Superhit „Believe“ von 1998 in aller Munde, kann man offenbar nur lieben oder hassen. Und Mark Ronson zählte lange zu letzteren. Entsprechend skeptisch bewertet sie der britische Produzent und DJ zu Beginn seiner sechsteiligen Dokumentation „Watch the Sound“. Es sei arrogant zu glauben, betont er darin ab heute bei Apple TV+, „etwas Perfektes wie die menschliche Stimme, lässt sich künstlich in etwas Besseres transformieren“. Das Urteil seiner kleinen Forschungsreise durchs technologische Equipment zeitgenössischer Popmusik schien also früh gefällt.

Doch Mark Ronson gilt nicht zufällig als Grenzgänger, dem Scheuklappen fremd sind. Der englische Stiefsohn des Foreigners-Gitarristen Mick Jones hat schon als Teenager in New York Kontakt zu fast allen Genres – und öffnet sich daher frühzeitig dem Mainstream. Kreativ in Szene gesetzt von Regisseuren wie Morgan Neville, der zuvor Johnny Cash, die Beach Boys, das Soul-Label Stax porträtierte, will er dem Instrumentarium im Hintergrund massenkompatibler Klänge daher ergebnisoffen auf die Spur kommen. Und dabei zeigt sich Ronson eher als Musikforscher, denn nur -praktiker.

Selbst Töne, die ihm wie Auto-Tune verdächtig sind, wecken da sein Interesse. Und so wühlt er sich mit tiefenentspannter Hingabe durch den Siegeszug dieser angesagten Software, entdeckt historische Spuren davon in einer geologischen Ortungstechnik tiefliegender Ölvorkommen, fragt John Lennons Sohn Sean nach der potenziellen Einstellung seines Vaters dazu, stellt sich mit Stars wie Charli XCX oder Lady Gaga ins Studio und lässt zuletzt gar sein eigenes Liedgut verzerren, um Erkenntnisse zu gewinnen.

Die wichtigste: Auto-Tune sei zwar zweckentfremdet worden, „um schlechten Gesang zu reparieren“, wie er am Beispiel gruseliger Chartkracher der Nullerjahre zeigt. Abseits vom kapitalistischen Kalkül allerdings erlaube es eine „völlig neue Form der Emotionalität“. Ronson nennt sie „Traurigkeit der Roboter“. Der bildschöne Mittvierziger mit dem traumhaft vollen Haar lächelt dazu, als hätte ein Kind unterm Rosenkohl Schokolade gefunden. Und auch sonst tropft ihm die Leidenschaft der popkulturellen Hermeneutik so aus jeder Produzentenpore, das man von der ersten Minute des ersten Teils an Lust auf jede Minute bis zur letzten des sechsten Teils bekommt.

Über fesselnde drei Stunden hinweg geht es dabei vom Sampling über Synthesizer und Drum-Maschine bis hin zum Gitarrenverzerrer wahllos durch die Geschichte der vordergründigen Hintergrundgeräusche. Und wenn er sich am Beispiel moderner Techniken mithilfe unzähliger Legenden vor wie neben der Bühne vom Hall gewaltiger Kathedralen auf Mikrochips futuristischer Keyboards vorarbeitet, werden auch Protagonisten maximaler Größe wieder zu Kindern im professionell ausgestatteten Spielzimmer des Stadionpop. Etwa Dave Grohl, einst Nirvana, jetzt Foo Fighters, in jedem Fall seit jeher Headliner jedes Festivals von Rang.

Wenn Curt Kobains Ex-Drummer mit Quincy Jones‘ Ex-Schwiegersohn auf der Suche nach dem Ursprung der Saitenverzerrung die Membrane edler Boxen zerstört, giggelt Grohl wie ein 15-Jähriger beim ersten Joint. Wenn der 86-fache Platingewinner mit Oscar im Trophäenschrank zwei verbliebene Beasty Boys auf eine Spritztour zu den Wurzeln des HipHop bittet, zeigen sie ihm nostalgische Sequenzer als wären es verloren geglaubtes Kuscheltiere auf Omas Speicher. Und so traurig es so kurz nach dem Todestag von Amy Winehouse ist: Wenn Ronson ins Jahr 2007 blickt, als er ihr Album „Back in Black“ so lange mit Hall versah, bis sich das Leid dieser Welt im Gesang der selbstzerstörerischen Künstlerin manifestierte, macht das ihr Ende im 27er-Club ein bisschen erträglicher.

Ausgerechnet der multimilliardenschwere Tech-Multi Apple, dessen Kommerzialisierung nahezu aller Ecken der Sub- bis Massenkultur für viele noch destruktiver war als Auto-Tune und Eurodance zusammen, hat also ein liebevolles Meisterwerk der Musikanalyse erschaffen. Aufgelockert durch putzige Animationen und allerlei Poparttricks schafft es „Watch the Sound“ also tatsächlich, unser akustisches Klangerbe sichtbar zu machen und die zugehörige Vergangenheit lebendig – sofern man die technischen Hilfsmittel auch als solche begreift.

„Jede Maschine“, sagt Mark Ronson bei seiner Selbstaustreibung hartnäckiger Vorurteile vom Teufel Auto-Tune, „hat nur so viel Seele wie derjenige, der sie bedient“. Dank dieser Dokumentation können wir sie tatsächlich besser erkennen: Die Seele der Maschinen, die Seele der Menschen, die Seele der Musik, und wenn Paul McCartney sagt, John Lennon hätte Auto-Tune geliebt, „einfach, weil ihn alles Neue an der Musik interessiert“ habe, ein bisschen sogar die Seele der Beatles. Von dieser Neugier lebt auch Ronsons Reise ins Innere der ältesten Kunst unserer Spezies.

"Watch the Sound" steht ab sofort bei Apple TV+ zum Anschauen bereit.