Noch bevor das erste Bild zu sehen ist, fällt ein Schuss. Dann plötzlich folgt ein Handyvideo. Viel zu sehen gibt es nicht. Doch die Kombination aus rennenden Beinen und Blutspuren auf dem Boden ist eindringlich. Schnell wird klar: Hier, in diesem Einkaufszentrum, geschieht gerade ein Amoklauf. Doch wer Amok läuft, bleibt im Dunkeln - genau genommen über fast sechs Folgen hinweg.
An potenziellen Amokläufern mangelt es nicht in der neuen ZDFneo-Serie „Am Anschlag“, die nicht ohne Grund mit dem Untertitel „Die Macht der Kränkung“ versehen wurde. Jede einzelne Folge stellt einen Menschen in den Mittelpunkt, der sich zum Zeitpunkt des Amoklaufs in besagter Mall befand. Und jeder dieser Menschen wurde in der Vergangenheit durch eine Kränkung in einen derart emotionalen Ausnahmezustand gebracht, dass es vor dem Fernseher fast unmöglich ist herauszufinden, wer die schreckliche tatsächlich begangen hat.
Dass die spannende Frage möglichst lange offen bleibt, dafür sorgt schon alleine der Aufbau. Während viele Miniserien in Wahrheit nichts anderes sind als klassische Zwei- oder Dreiteiler, so ergibt die Serienform in diesem Fall absolut Sinn. Denn jede Folge stellt eine andere Person in den Mittelpunkt und erst in der sechsten Folge, benannt mit „Tag X“, erfolgt die Auflösung.
Da ist etwa Georg (Muruthan Muslu), der Mitarbeiter einer Sicherheitsfirma, dessen Frau durch einen Unfall erblindete und sich mit Anabolika stark macht. Oder Mira (Julia Koschitz), die sich bei Georgs Vorgesetztem über ihn beschwert, gleichzeitig aber selbst vor beruflichen und privaten Problemen steht. Miras Mutter Ingeborg (Ulrike Willenbacher) wiederum möchte sich nach dem Tod ihres Mannes mit ihrer Tochter aussöhnen, während ihr Nachhilfeschüler Lorenz (Jonas Holdenrieder) nicht damit klarkommt, dass Ingeborg der Liebe wegen ins Ausland ziehen möchte. Und dann ist da auch noch Sarah (Lea Zoë Voss), die Mutter von Lorenz, die als alleinerziehende Ärztin ständig unter Spannung steht und sich mit Alkohol und Tablette.

Die Geschichten von Autorin Agnes Pluch, die auf Reinhard Hallers Sachbuch „Die Macht der Kränkung“ basieren, sind von Regisseur Umut Dağ fein miteinander verwoben worden, lassen aber bis zum Schluss fast alles möglich erscheinen. „Bei all dieser Tragik und den vielen Kränkungen, war es eine Herausforderung, die Charaktere in ihrer Menschlichkeit und Wärme so einzufangen, dass wir trotzdem unmittelbar und emotional an ihnen dranbleiben, um mit ihnen zu leiden und keine distanziert beobachtende Rolle einzunehmen“, sagt Dağ.
Parallelen zur Realität?
Dass „Am Anschlag“ so packend und vor allem dicht daherkommt, hängt sicher auch damit zusammen, dass häufig sehr nahe Einstellungen gewählt wurden, die teils nicht mehr zeigen als die Augen, die das Publikum mitunter sogar direkt ansehen. Mehr Verzweiflung geht nicht. Getrübt wird das Bild allenfalls durch die manchmal etwas knapp bemessene Zeit. Die verhindert, dass manche Wendung vielleicht ein bisschen zu schnell daherkommt.
Etwas schade ist auch, dass ausgerechnet eine Shoppingmall als Ort des Attentats gewählt wurde, drängen sich doch unweigerlich Parallelen zum Amoklauf im Münchner Olympia-Einkaufszentrum vor einigen Jahren förmlich auf - doch während der Amoklauf in der Realität inzwischen als rechtsextrem eingestuft wurde, spielt sich die ZDFneo-Serie freilich auf einer anderen Ebene ab. Diese Vergleiche muss man aus dem Kopf bekommen, um sich vollends auf die temporeich inszenierte Story einzulassen.
Sehenswert ist die Produktion von Tivoli Film und Mona Film nämlich allemal, auch wegen des durchweg überzeugenden Ensembles, allen voran Julia Koschitz, die die Emotionen ihrer Figur glaubwürdig transportiert. „Wir alle wollten von Anfang an nicht nur eine spannende Geschichte erzählen, sondern vor allem viel Empathie für unsere Figuren erzeugen und so vielleicht ein wenig für das Thema Kränkung sensibilisieren“, sagt Autorin Agnes Pluch. Das ist ohne Zweifel gelungen.
ZDFneo zeigt am Dienstag und Mittwoch ab 21:45 Uhr jeweils drei Folgen von "Am Anschlag - Die Macht der Kränkung", in der ZDF-Mediathek steht bereits die komplette Serie zum Abruf bereit.