Katastrophenfilmformate haben eigentlich ein wiederkehrendes Muster, das sie alle gleichsam prägt. Ob nun Vulkanausbruch, Virenattacke, Meteoriteneinschlag oder Prophezeiung im Jahr 2012: während der erste Mahner zu mahnen beginnt, werden bis zum katastrophalen Filmereignis etwa 30 Minuten lang akkurat die Hauptcharaktere vorgestellt; dann erst darf die Welt mit reichlich CGI-Getöse ins Unglück stürzen, aus dem sie der erwähnte Mahner letztlich rettet – ob nun von Pierce Brosnan, Dustin Hoffman, Bruce Willis, John Cusack verkörpert oder ganz neu: Moritz Bleibtreu.

In der deutschen Echtzeitapokalypse "Blackout" um einen europaweiten Stromausfall spielt er den Südtiroler Umweltaktivisten Pierre Manzano, dem die kontinentale Havarie spanisch vorkommt – schließlich hat der frühere Hacker Energiekonzernen einst selber die Netze gekappt. Das allerdings erfahren wir im Gegensatz zum Gros amerikanischer Desaster-Movies erst nach der Katastrophe, die einer halben Milliarde Menschen von jetzt auf gleich den Saft abdreht. Europa versinkt im Dunkel. Physikalisch, aber auch zivilisatorisch.

Denn kaum, dass alle Heizungen, Lichter, Geräte kurz vorm Wintereinbruch tot sind und damit die komplette Infrastruktur, bricht Chaos aus. Um Lebensmittel, Kraftstoffe, Ressourcen, sogar Wasser und Wärme entbrennen zusehends brutale Verteilungskämpfe. Auch Deutschland schlittert mit jeder Serienminute mehr dem Bürgerkrieg entgegen. Und mittendrin: Manzano, der vom Mahner zum Gejagten wird, weil die verbliebene Staatsmacht im früheren Anarcho den Schuldigen der Misere vermutet.

Anders als Naturkatastrophenfilme ist "Blackout" also auch ein Who-dunnit-Thriller, der im Durcheinander die Verantwortlichen des Terrorangriffs aufs fragile Netz der digitalisierten Stromversorgung sucht. Und es ist keineswegs das einzige Alleinstellungsmerkmal eines bemerkenswerten Sechsteilers der ProSieben-Plattform Joyn Plus+. Schließlich löst sich Regisseur Lancelot von Naso – ansonsten eher für schlichtere Krimikost wie "Kommissar Marthaler" zuständig – vom hiesigen Hang zur Heldenverehrung und bevölkert sein Unheil mit Figuren jenseits billiger Klischees.

Krisenstabsleiterin Frauke Michelsen (Marie Leuenberger) zum Beispiel tariert familiäre und nationale Pflichterfüllung sehr authentisch am Rande der Verzweiflung aus. Auch die Spitzenpolitiker von Stephan Kampwirth, Herbert Knaup und – kein Witz! – Francis Fulton Smith – halten gekonnt ihre Balance zwischen Staatsräson und Bevölkerungsschutz. Generell zählt das unterirdische Kammerspiel der Notstandsregierung zu den Stärken der Serie. Schwächer gerät sie indessen, wenn Lancelot von Naso Mark Elsbergs Besteller nach eigenem Drehbuch zum Blockbuster aufzublasen versucht, der seine Eskalationsspiralen im dräuenden Bedrohungsdauersound erstickt.

Wie so oft bei Produktionen von Wiedemann & Berg ("Dark") folgt die Funktion also auch hier öfter als nötig der Form. Klar also, dass sich der Blackout anfangs halbe Ewigkeiten bei Insassen einer stehengebliebenen Achterbahn aufhält. Klar auch, dass ein Scheidungsvater (Barry Atsma) fieberhaft zwei zuckersüße Kinder sucht. Geradezu sonnenklar, dass Bleibtreus Revoluzzer auf der Flucht einen Oberschenkelschuss kriegt, der ihn freilich vom Weiterfliehen nicht abhält. Klar wie Kloßbrühe zudem, dass neben Sitte und Anstand bald Reaktorkerne schmelzen und Spießer zu Barbaren werden, also alles sehr bildgewaltig kollabieren darf.

Wer schon den Einstieg derart früh beschleunigt, tritt Richtung Finale schließlich nicht auf die Bremse. Trotzdem ist „Blackout“ gehaltvoller als der branchenübliche Katastrophenquatsch mit Gefühlssoße aus deutscher Produktion wie der RTL-Mumpitz "Helden" über ein Schwarzes Loch unterm Reichstag. Und das liegt auch an Moritz Bleibtreu. Wie sein Hacker, der ideologisch demotiviert vom Weltverbesserer zum Pizzaboten schrumpft, als ungewollter Doppelagent durch Feindesland hetzt, das ist großes Actionfernsehkino mit Tiefgang. Pierre Manzano, so lernen wir in allerlei Rückblenden, wurde vor 20 Jahren beim berüchtigten G8-Gipfel von Genua traumatisiert, als die örtliche Polizei den internationalen Protest dagegen in einem gesetzlosen Blutbad ertränkte.

Hier konsequent die Partei der Demonstrierenden zu ergreifen, fiele öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern, von den privaten ganz zu schweigen, gewiss schwerer als dem jugendaffinen Streamingdienst Joyn. Umso mehr hätte man erwartet, dass Lancelot von Naso die Darsteller der Anti-G8-Bewegung nicht aus dem Schauspielkarteikasten "FDP-Mitglieder", sondern "Autonome" castet – aber geschenkt. Wichtiger ist, wie souverän er abseits vom Action-Part politische und persönliche Entscheidungen in einem Szenario kontrastiert, das bisweilen arg drastisch ausfällt, aber keineswegs ausgeschlossen ist.

"Wir hoffen das Beste", sagt die authentische Krisenstabschefin Michelsen zu Beginn, "und bereiten uns auf das Schlimmste vor". Zum Beispiel: der Bundeskanzler fahre lieber auf Sicht als sein Amt durch radikale Maßnahmen zu gefährden. Russland bietet wie einst Amerika eine Berliner Luftbrücke an, mangels Melkmaschinen verendet das Heer hochgezüchteter Kühe in den Stallfabriken, Dieselaggregate sind plötzlich wertvoller als Serverparks – höchst originelle Ideen einer prominent (wie immer im Katastrophenfilmfall vorn dabei: Heiner Lauterbach) besetzten Abwärtsspirale, die Notstandsfiktion im Zeitalter von Klimakrise, Terror, Querdenkern so fesselnd wie unterhaltsam machen und manchmal sogar richtig relevant.

"Blackout" steht ab dem 14. Oktober bei Joyn Plus+ zum Abruf zur Verfügung. Die Free-TV-Premiere ist für Frühjahr 2022 in Sat.1 geplant.