15 Zentimeter wachsen Haare eines Menschen im Schnitt pro Jahr. Bestünde also 20,5 Jahre lang nicht die Möglichkeit, zum Friseur zu gehen oder sich selbst zurecht zu stutzen, dann könnte das ziemlich unangenehm und schmerzhaft werden, weil die Haare dann rechnerisch um drei Meter gewachsen sind. 20,5 Jahre, so lang ist es her, dass bei RTL die erste große Frisör-Dokusoap "Der Frisör" beendet wurde. In Zeiten des groß aufkommenden "Big Brother"-Booms hatte der Privatsender einen Frisörsalon mit Kameras ausgestattet und wollte werktäglich die Geschichten der Angestellten und Kunden erzählen. Das Projekt floppte und so dauerte es eine ganze Zeit, bis das deutsche Fernsehen das Faszinosum Friseurgeschäft wieder für sich entdeckte. RTLzwei etwa mit "Einfach hairlich" vor nicht allzu langer Zeit oder jetzt ZDFneo mit dem neuen Vorabendprogramm "Waschen, Schneiden, Leben".

Der Neustart der Sony Pictures Film und Fernseh Produktions GmbH setzt dabei auf ein ähnliches Grundrezept wie bei RTL damals: Ein Kölner Salon wurde mit Kameras ausgestattet und soll die Gespräche beim Haareschneiden dokumentieren. Anders als vor 20 Jahren scheint das Casting aber gezielter erfolgt zu sein, die auf dem Stuhl sitzenden Otto-Normalos bringen nämlich zumeist interessante Geschichten mit. "Waschen, schneiden, Leben" setzt also weniger als das einstige RTL-Format auf einen experimentellen Gedanken und will keinen typischen Arbeitsalltag abbilden, sondern mit Hilfe des schon in den "GNTM"-Umstyling-Folgen immer funktionierenden Wow-Effekts am Ende der Episode überraschen und unterhalten.

Die Suche nach dem neuen Look, nach dem neuen Ich, die ganz individuell auf die Lebenssituation der einzelnen Personen zugeschnitten ist, steht stärker als in früheren Formaten dieser Stoßrichtung im Mittelpunkt. Das zeigt sich besonders gegen Ende, als noch neue Kleidung ausprobiert wird und dann endlich – in Zeitlupe – der Blick auf den Spiegel freigegeben wird. Natürlich steht und fällt das Format ganz wesentlich mit den Kundinnen und Kunden. Da ist etwa ein junger Theologie-Student zu sehen, der sich an einem "Switch-Punkt" seines Lebens sieht, weil bei ihm nun ein halbes Praxis-Jahr im Ausland ansteht. Deshalb sucht er zum ersten Mal seit 18 Monaten wieder einen richtigen Frisörsalon auf. Oder eine Mutter, die nach drei Fehlgeburten ein "ungeplantes Wunschkind" bekommen hat, das aber "Extra-Aufgaben" mitbringt, weil es das Down-Syndrom hat. Auch Neurodermitis und dazugehöriges Mobbing gehören zu den Themen, die die Sendung anspricht.

Eines hat sich in den 20 Jahren nicht verändert: Während die Rasierer rasseln, bleibt viel Zeit für private Gespräche. Das Kennenlernen der großen Liebe, Familien-Eis-Essen abends um halb zehn, Sommerurlaub am Meer. Es ist Small-Talk wie dieser, unaufgeregt und herzenswarm serviert. Das ist zugleich aber auch das größte Manko einer Sendung, die flott geschnitten, aber nie hektisch wirkt und doch ein wenig vor sich hin plätschert: Eine echte Spannungskurve ist kaum vorhanden, das Ende stets vorhersehbar – weil natürlich alle mit dem Ergebnis (mehr als) zufrieden sind.

 

Und so schön es ist, dass Friseure landauf, landab wieder geöffnet haben, niemand also über meterlange Haarsträhnen stolpern muss, so wirklich vermisst hat das deutsche Fernsehen Formate wie dieses nicht. Speziell nicht im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Wer unaufgeregtes Feel-Good-Fernsehen und zwischenmenschliches Miteinander im Fernsehen dargeboten bekommen will, der ist schließlich bei Vox mit Formaten wie "First Dates" und "Das perfekte Dinner" bereits gut aufgehoben.

ZDFneo zeigt 25 Folgen von "Waschen, Schneiden, Leben!" werktags um 17:45 Uhr. Die Folgen stehen zudem in der Mediathek zum Abruf bereit.