Christian Schwochow hat in recht kurzer Zeit als Regisseur Historisches geleistet. Seit seiner Abschlussarbeit „Novemberkind“ vor 14 Jahren hat er Tellkamps unverfilmbaren „Der Turm“ verfilmt und zuletzt Lenz‘ unvergleichliche „Deutschstunde“. Er hat die Maueröffnung Höhe „Bornholmer Straße“ nachgestellt und die Morde des NSU. Er hat der früh gestorbenen Paul Modersohn-Becker ein lebendes Gesicht verliehen und in „The Crown“ gar der unsterblichen Queen. Mit alledem hat er die Fiktion auf ein reales Niveau jenseits geschichtswissenschaftlicher Erbsenzählerei gehoben. Aber auf so artifizielle Art wahrhaftig wie sein neues, war wohl noch keines seiner wegweisenden Werke.

Allein schon wegen Hitler.

Genau 60 Minuten bereits läuft Schwochows Anbahnung des Münchner Abkommens, jener Konferenz vor 83 Jahren, in der die Regierungschefs von England und Frankreich dem deutschen Diktator vermittelt vom italienischen das Sudetenland überlassen, um einen weiteren Weltkrieg zu verhindern. Genau die Hälfte der Filmlänge also arbeitet sich Schwochows Netflix-Drama „München“ schon aufs Finale zu – da tritt er auf: der NS-Führer, gespielt von Ulrich Matthes, dem Bühnen-Berserker. Nur: ist das wirklich Adolf Hitler oder seine Karikatur?

Schwer zu sagen, aber auch ein bisschen egal. Denn wie in jedem seiner beispiellosen Filme vom Meth-Tatort „Borowski und der Himmel über Kiel“ bis zur Finanz-Tragödie „Bad Banks“, schafft es der Regisseur, echte Begebenheiten opulent und gleichsam dezent zu überzeichnen, dass sie fast ein wenig wahrer wirken als die Realität. Es gelingt ihm folglich auch hier, in der Adaption des gleichnamigen Bestsellers von Robert Harris, Untertitel: „Im Angesicht des Krieges“. Der nämlich steht kurz bevor, als Matthes‘ Hitler mit viel zu großer Uniform am Körper und viel zu großer Niedertracht im Gesicht auf den Verhandlungspartner Neville Chamberlain trifft.

Sekundiert vom französischen Premier Édouard Daladier (Stéphane Boucher) und Italiens Duce Benito Mussolini (Domenico Fortunato), handeln sie fortan in feindlicher Verbundenheit ein Abkommen aus, das Schwochows Abspann als Zeitgewinn charakterisiert, der den Alliierten die Möglichkeit zur besseren Kriegsvorbereitung, also späteren Sieg gab. Was Paul von Hartmann und Hugh Legat in den 120 Minuten zuvor allerdings völlig anders sehen. Legat, Hartmann? Historiker dürften diese Namen ratlos machen. Das Publikum aber hat sie zu Beginn der Handlung kennen und womöglich auch ein bisschen lieben gelernt.

Im Sommer 1932 feiern beide Studenten der Elite-Uni Oxford ein rauschendes Gartenfest und schwören sich mit ihrer Kommilitonin Lenya (Liv Lisa Fries) ewige Freundschaft. Sechs Realjahre in fünf Filmminuten später jedoch liegt sie in weiter Ferne. Legat (George MacKay) arbeitet fürs britische Außenministerium, Hartmann (Jannis Niewöhner) fürs deutsche. Politisch zerstritten sind sie sich seit der Party nicht mehr begegnet, treffen nun aber bei der Münchner Konferenz aufeinander, die Hartmann sabotieren will.

Anfangs glühender Nationalsozialist, hat ihm seine Sekretärin (Sandra Hüller) schließlich Dokumente zugespielt, die Hitlers Eroberungspläne und damit das Scheitern der alliierten Appeasement-Politik belegen. Hartmanns Kalkül: falls das Abkommen scheitert und Deutschland in die Tschechoslowakei einmarschiert, könnte er mithilfe regimekritischer Generäle einen Putsch organisieren. Der Diplomat braucht nur jemanden, der Chamberlain die Papiere zeigt: Legat. Im Stil des Politthriller-Experten Harris startet nach Büchern des Theater-Experten Ben Power eine Verfolgungsjagd, die so nie stattgefunden hat, aber haben könnte.

Mit atemberaubender Ruhe treibt Schwochow Keile der Fiktion ins Gerüst verbriefter Abläufe. Während Jeremy Irons dem selbstgerechten Zauderer Chamberlain Authentizität verleiht, mimt August Diehl seinen SS-Schergen auf der Spur des alten Schulfreundes Paul mit tarantinohafter Bosheit. Während der Tagungsablauf mit großer Detailfreude Realismus beansprucht, dienen die stechenden Augen des Gastgebers eher der Eskalation als Glaubwürdigkeit. Dichtung und Wahrheit bilden somit ein fast shakespearesches Duett wechselseitiger Verstärkung, das die Interpretationsspielräume ständig öffnet und schließt – eine Kunst, die kaum jemand beherrscht wie Christian Schwochow.

Deshalb besetzt er alle Rollen mit Muttersprachlern, die Netflix in jeder Synchronfassung untertitelt. Deshalb lässt Schwochows Stammkameramann Frank Lamm die Bilder zwar passend zur Kriegsfurcht zittern, aber nicht im Dogma-Modus zappeln. Deshalb belegen beiläufige Szenen drangsalierter Juden am Straßenrand zwar nationalsozialistische Verbrechen, sie beanspruchen aber keine Deutungshoheit übers restliche Geschehen. Deshalb lässt die Regie etwa in Gestalt einer Stenotypistin dunkler Haut, die ihre Herkunft ungefragt mit „Nottingham“ angibt, sogar Momente moderner Diversität ins reaktionäre Zeitalter einfließen, macht daraus aber keine große Sache.

Die offene Verachtung zwischenstaatlicher Spielregeln, mit der Hitlers Erben von Putin über Assad bis Xi Jingping grad demokratische Diplomaten am Nasenring durch den Ring zerren, zeigt zudem, was „München“ auch über unsere Gegenwart zu sagen hat: Appeasement genannte Beschwichtigung machtlüsterner Diktatoren ist vor 83 Jahren gescheitert, sie scheint es jetzt wieder zu tun. Wer Schwochows Realfiktion vom Herbst 1938 sieht, könnte im Winter 2022 durchaus verzweifeln – aber das immerhin beim Genuss großartigen Fernsehens.

Der Film "München - Im Angesicht des Krieges" steht ab sofort bei Netflix zum Abruf bereit.