Katja Riemann hat schon so manches verkörpert in ihren drei Schauspieljahrzehnten. Sie war ein Sehnsuchtsobjekt angehender Studienräte der Neunziger, sie war ein Sehnsuchtsobjekt reifer Studienräte der Nuller, sie war ein Sehnsuchtsobjekt ergrauter Studienräte der Zehner. Sie war Trümmerfrau und Apothekerin, Hexenmutter und Schuldirektorin, Katharina die Große und Eva Braun, wenngleich zum Kugeln. Sie war, so ticken Film und Fernsehen noch immer, mal Hure, mal Heilige, stets borstig, nie glatt. Aber eines war Katja Riemann trotz aller Facetten noch nie: ein egoistisches Arschloch.

Bis jetzt! Im ZDF-Sechsteiler „Der Überall“ verübt ihre Serienfigur Paula Schönberg ab heute nämlich das titelgebende Ereignis. Und weil Komplize Kowalski (glaubwürdig desperat: Joel Basman) dabei für ein paar Euros mehr den Kioskbetreiber Hassan erschießt, weil die spielsüchtige Personalchefin eines anonymen Großkonzern, den sie um ihre Wetteinsätze betrügt, zwischen Zocken und Rauben abgebrüht Angestellte rauswirft, weil sie das trostlose Chaos einer miserablen Existenz also gern auf dem Rücken anderer zu ordnen versucht und dabei an den Abgrund zieht, kann man sagen: gute Rollenwahl. Einerseits.

Denn andererseits rockt das Böse zwar mehr als das Gute. Hier allerdings rockt Katja Riemanns Antagonistin in einem Format, das viel zu deutsch ist, um gut zu sein. Nach Büchern von Stefan Kolditz, beim ZDF ansonsten eher für Historisches wie „Dresden“ zuständig, und der jungen Katja Wenzel, die mit ihm unlängst schon „Das Geheimnis des Totenwaldes“ geschrieben hatte, widerfährt dem „Überfall“ ungefähr das, was Thrillern hierzulande andauernd widerfährt: er misstraut seiner eigenen Geschichte. Genauer: Stephan Lacant tut es. Und das noch nicht mal zu Unrecht.

Der Regisseur, dessen schwules Polizeifilmdebüt „Freier Fall“ vor neun Jahren für einiges an Aufsehen sorgte, muss schließlich eine heillos überfrachtete Story dicht verwobener Einzelschicksale entknoten, die selbst mit Programmheft auf dem Schoß zu verwirrend wäre. Über knapp sechs hochtourige Stunden hinweg hängt hier alles mit allem zusammen und alle haben dabei allerhand Rucksäcke voller Sorgen zu schleppen. Der Raubüberfall war demnach nur das erste Etappenziel einer Eskalationsspirale von endloser Abwärtsdynamik, in der Erlösung selten bleibt.

Das Raub-Duo erbeutet schließlich unverhofft 30.000 Euro, die der Ladenbesitzer kurz vor seinem Tod aus unerfindlichem, aber folgenschwerem Grund bar abgehoben und in einen Papierbeutel gestopft hat, den der bankrotte Kowalski, hauptberuflich in Schönbergs Firma als Putzkraft tätig, beim Fliehen verliert – und zwar ausgerechnet an die Tochter der später ermittelnden Kommissarin Antonia Gebert (Lorna Ishema), während sich Hassans Bruder Damian (Yasin Boynuince) schon am Tatort verdächtig macht und wohl auch ist. Je komplexer die Erzählung, desto mehr Charaktere haben darin miteinander zu tun. Kaum überraschend, dass die Zeugen ebenfalls tiefer drinstecken als Querschläger im Körper der Kollateralschäden.

Doch damit nicht genug, kippt Stephan Lacant einen Bedeutungskleister über nahezu jede Szene, dass beim Zuschauen vor lauter Zeitlupen, Close-Ups, Totalen Schwindelgefühle entstehen. Anstatt die Charaktere zu erklären, schickt er sie in melodramatische Gefühlsgewitter. Anstatt mit Understatement Suspense zu erzeugen, muss jeder Gesichtsausdruck die Stimmung dahinter spiegeln. Anstatt sein originell gecastetes Personal abseits der üblichen A-Promiriege einfach mal machen zu lassen, unterzieht er es also seiner dramaturgischen Fußreflexzonenmassage.

Und das überfordert selbst die besten Akteure im Team. Den fabelhaften Sebastian Zimmler zum Beispiel, dessen Kommissar Worms der seelenwunden Kollegin Gebert – wir sind hier im deutschen Krimi – natürlich bald näherkommt. Schade eigentlich. Im Potpourri artifizieller Eigenarten schafft es dieser gefühlvolle Haudegen schließlich fast als einziger, der tollen Optik Tiefe zu verleihen – und das, ohne sich dem Publikum uns anzubiedern. Wenn er die beraubten Perser beharrlich für Türken hält und eins davon fragt, ob die Räuber „deutsch“ seien „oder eher aus deinen Kreisen“, wenn er fremd aussehende Opfer automatisch zu Tätern macht, werden Erinnerungen an die NSU-Morde wach, denen das Etikett „Döner-Morde“ angeheftet wurde.

Der „Kiosk-Mord“ könnte demnach ein sozialer Nebenschauplatz dieser höchstpersönlichen Thrillerprosa werden. Da fast jeder Betroffene solcher Vorurteile Dreck am Stecken hat und – klaro – auch Drogen ins Spiel kommen, lässt sie das ZDF allerdings doch nur Klischees bedienen. Schade, schade, schade. Schließlich ist „Der Überfall“ keineswegs völlig missraten. Wenn ausnahmslos alle Protagonisten zum hintergründigen, zugleich aber auch raumgreifenden Sound von René Dohmen, Joachim Dürbeck, Ege Ateslioglu nach Halt auf dem Boden der Plattenbauarchitektur ringsum suchen, erinnert die Atmosphäre ja an Meisterwerke kompilierter Großstadtpsychosen wie „L.A. Crash“ oder „Magnolia“.

Dank fortgesetzter Effekthascherei dümpelt „Der Überfall“ aber doch lieber Richtung „Dark“, wo jeder Handlungsfaden im Geflecht erwünschter Wirkungen verschwindet und damit trotz aller Ambitionen pathetisch wirkt, blutleer, eben deutsch. Für ein paar herzzerreißende Tränen muss dabei dann selbstverständlich auch noch ein kleines Kind verschwinden. Es ist übrigens nicht das von Katja Riemanns krimineller Personalchefin. Für Mutterliebe ist die zu egoistisch.

Das ZDF zeigt die sechs Teile ab sofort freitags um 21:15 Uhr. Alle sechs Teile stehen auch bereits in der ZDF-Mediathek zum Abruf bereit.