Film- und Serientitel sind nur selten mal Dialogfetzen der hörbaren Handlung, aber falls doch, sollten sie entweder „Schtonk!“ lauten oder ab heute bei Warner TV Serie: „Almost Fly“. So heißt ein Sechsteiler, den der früher als TNT Serie bekannte Sender zeigt und somit zwei Worte der dritten Folge zum Label des ganzen Formates macht. „This is a goddam violation on human dignity“, sagt der Friseur einer US-Kaserne kurz nach dem Mauerfall im westdeutschen Eichfeld zur missratenen Frisur des Eingeborenen Ben und fügt lachend hinzu: „Almost fly!“

Sinngemäß übersetzt bedeutet das „leider nicht so richtig cool“ und bringt perfekt zum Ausdruck, um was es in der gleichnamigen Komödie geht. Ben ist ein pubertierender Teenie im Jahr 1990, der – wie man es heutzutage formuliert – intersektional, also mehrfach diskriminiert werden kann. Als uneheliches Kind eines Schwarzen G.I. weicht er gleich doppelt ab von der bürgerlichen Kleinstadtnorm. Als bester Freund des ähnlich ausgegrenzten Walter steht er zudem meist zu zweit alleine am Schulhofrand. Und dann hat Ben obendrein die Idee, seinen Afro in einen Undercut zu verwandeln, den er beim damals neuen MTV auf Köpfen amerikanischer Rap-Stars gesehen hat. Ganz schlechter Einfall.

Wenngleich ein wegweisender.

Denn als der Soldaten-Coiffeur Bens Styling-Unfall mithilfe seiner ganzen Bronx-Erfahrung ausbügelt, macht er den Weg frei für eine bemerkenswerte Geschichtsstunde des an banalen Geschichtsstunden weitaus reicheren Historytainments deutscher Bauart. Erst mit frischer Frisur findet Ben nämlich den ersehnten Fluchtweg aus seiner Provinzhölle: HipHop. Ein Konzert auf der Militär-Basis hat ihn kurz zuvor erleuchtet. Nun gründet er mit dem unscheinbaren Walter und dem noch viel nerdigeren Nik die HipHop-Crew Atomic Trinity, tritt beim Schulfest auf, scheint sein Fenster in die Freiheit also geöffnet zu haben. Nur – wäre der Auftritt erfolgreich, könnte Regisseur Florian Gaag die Serie nach 60 von rund 270 Minuten ja getrost abbrechen.

Ben (Andrew Porfitz) liefe einer Gruppe Schulhof-Schnösel den Rang ab und bekäme deren Street Credibility. Walter (Samuel Benito) würde das Herz der geheimnisvollen Sarah (Emma Preisendanz) erobern und müsste nie mehr in der Autowerkstatt seines Vaters helfen. Nik (Simon Fabian) könnte sich Mixer kaufen statt aus Lego basteln und stiege zum Drahtzieher im Hintergrund des künftigen Welterfolgs auf, während die ähnlich gemobbte Denise aus Dessau (Paula Hartmann) dank ihrer Tanzkünste erst zur atomaren Dreifaltigkeit und von dort aus in die Mitte der Aufmerksamkeitsgesellschaft vorstieße.

Noch ein Sittengemälde randständiger Mikrokosmen

Mission accomplished, Happyend, Abspann, fertig, herrlich. Aber selbst für derart heitere Zeitreisen in die jüngere Vergangenheit unserer Popkultur doch ein bisschen zu fiktional. Deshalb erzählt Florian Gaag nach eigenem Drehbuch nicht nur die Funktionsweise jugendlicher Selbstermächtigung anno 1990. Knapp 16 Jahre nach seinem Durchbruch mit dem autobiografischen Spielfilm „Wholetrain“ mit Elyas M’Barek als Graffiti-Sprayer, schildert der Fünfzigjährige am Beispiel seiner Charaktere auch die Geburt des Deutschraps.

Und das ist schlichtweg hinreißend. Ein paar Stereotypen historischer Serienunterhaltung kann sich zwar auch der szenekundige Showrunner nicht verkneifen. Während die Sprache seiner jungen Charaktere von „Beef“ bis „alles gut“ ständig in den 2020ern landet, wirken reifere Figuren oft wie aus den Siebzigern zeitgereist. Dass die südwestdeutschen Provinzgewächse allesamt berlinern, ist bestenfalls nachlässig, schlimmstenfalls gewollt. Großflächige Tattoos hatten damalige Frauen selbst dann nicht am Hals, wenn ihr Mann wie hier der Dorfdealer wäre. Und auf Kritik am Unwort „Negerkuss“ hätten Betroffene in einer Landkonditorei jener alltagsrassistischen Tage gewiss lange warten können. Unschöne Zeiten. Schön werden sie dank der Serie also aus anderen als ästhetischen Gründen.

Die ungezügelte Leidenschaft zum Beispiel, mit der sich HipHop-Veteran Gaag auf die Spur seiner eigenen Leidenschaft begibt. Wie viel Empathie er der eingepferchten Kleinstadtjugend bis hin zu den Kleinkriminellen Cengiz (Samy Abdel Fattah) und Damir (Elmo Anton Stratz) schenkt. Wie er selbst der Elterngeneration – beispielhaft: Andreas Anke und Anja Schneider als Walters Eltern – zubilligt, Objekte bürgerlicher Gepflogenheiten zu sein. Vor allem aber: Wie er es schafft, die Geburt einer Subkultur so mit Themen von Misogynie über Fremdenfeindlichkeit oder Mobbing bis hin zur aufgehenden Ost-West-Kluft zu kombinieren, dass dramaturgisch alles voneinander profitiert.

Garant dafür ist einmal mehr das Produzenten-Duo Wiedemann & Berg, denen nach „4 Blocks“ oder zuletzt „Para“ nun das nächste Sittengemälde randständiger Mikrokosmen inmitten der Mehrheitsgesellschaft gelingt. Diesmal historisch, aber nicht annähernd so artifiziell wie andere Kostümfeste am Bildschirm. Videothekenpersonal, dass der Kundschaft den Titel des vorbestellten Pornos durch den Laden zuruft ist und bleibt zwar so zotig wie Filmdeppen, die Angina mit Vagina verwechseln. Wenn Gaag keine Punchlines sucht, trifft sein feiner Alltagshumor dafür voll ins Schwarze. „Fuck, ist das im Osten?“ fragt Ben, als Walter ihm einen Katalog vom Lehrlingsheim zeigt. „Nee“, kommentiert er die elterliche Zukunftsidee, „einfach nur hässlich“. So geht Historytainment.

"Almost Fly", dienstags um 21:00 Uhr, Warner TV Serie