Mit deutscher Politik ist am Bildschirm kein Staat zu machen. Während Serienparlamente in Frankreich („Baron Noir“), Italien („1992“) oder Amerika („West Wing“) sehenswert sind, ist der Bundestag seit dem „Kanzleramt“ mit Klaus J. Behrendt als Gerhard F. K. Schröder ein Friedhof der exekutiven Fernsehunterhaltung – was Anna Loos in „Die Stadt und die Macht“ oder Rosalie Thomass als „Die Diplomatin“ in Brüssel elf Jahre später nachdrücklich bestätigt haben.

Vielleicht ist die deutsche Politik seit ihrer Vergewaltigung von 1933-45 für Entertainment ohne Hitler historisch diskreditiert. Vielleicht reichen die Talkshows von Lanz bis Will aus, um auch von ihrer Gegenwart genug zu haben. Vielleicht sind Hinterzimmer-Diplomatie und Gesetzbuchbürokratie schlicht zu kompliziert, um sie mit Humor oder ohne nachzuspielen. Vielleicht legen wir aber auch gern räumliche Distanz zwischen die Gewaltenteilung und ihre Nacherzählung, weshalb der Hauptgrund für deutsche Politserienmängel mit „Borgen“ zu tun haben könnte.

Vor drei Legislaturperioden wurde die Phantasiepolitikerin Birgitte Nyborg darin Dänemarks Phantasiepremierministerin und wechselte 30 Folgen lang fleißig die Fronten. Mal war sie Partei-, mal Regierungschefin. Nebenbei Mutter, Frau, Freundin, Geliebte. Zwischendurch kurz (wie Friedrich Merz) in der Wirtschaft tätig, aber (anders als er) unentwegt am Hebel politischer Macht. Wobei vom Hebel über die Macht bis ins menschliche Drumherum jeder einzelne Moment der ersten drei Staffeln glaubwürdiger fesselte als alle Folgen „Kanzleramt“ zusammen. Als Nyborgs Phantasiepartei Neue Demokraten am 31. Oktober 2013 auf Arte die dänische Phantasiewahl gewannen, konnte das demnach nicht das Ende sein.

Ist es auch nicht. Neun Jahre später kehrt sie als Außenministerin zurück auf den Bildschirm. Und wie im Cliffhanger auf DR1, wirkt beim Vertragspartner Netflix vieles, als hätte Serienschöpfer Adam Price die Kameras direkt ins Borgen genannte Schloss Christiansborg gestellt, wo drei von vier Gewalten unweit der vierten (Presse) auf engstem Raum residieren. Ein kompliziertes Unterfangen in hochkomplexer Zeit.

Denn während die Strippenzieherin im Außenamt alles versucht, um Dänemark klimaneutral zu gestalten, wird unter Grönland ein Ölvorkommen entdeckt, das die autonome Insel reich, also unabhängig vom ungeliebten Königreich machen könnte und nebenbei Schurkenstaaten wie Russland oder China anlockt. Wie immer in einer Serie, die nicht wenige fürs bessere, weil effektreduzierte (und kevinspaceyfreie) „House of Cards“ halten, geraten Wunsch und Wirklichkeit, Ideale und Opportunismus politischer Prozesse also massiv aneinander.

Niemand ist je zufrieden

Was die Grönländer aus ihrer Armut befreien könnte, untergräbt schließlich das dänische Ziel, 2050 klimaneutral zu sein. Als die Außenministerin ihrem Assistenten vom Fund fossiler Energieträger erzählt, sagt der daher zwar „Glückwunsch“, fragt zur Sicherheit aber nach: „Sind wir glücklich darüber?“ Sind wir nicht! So, wie niemand in „Borgen“ je zufrieden ist mit dem Erreichbarem, vom Erreichten ganz zu schweigen. Genau darin besteht der trübe Glanz einer besonderen Serie, die vorige Staffeln nicht nur weitererzählt, sondern aufwertet.

Anders als im Genre üblich macht das winzige Land mit riesiger Arktis aus dem Stoff demokratischer Aushandlungsprozesse im Bannstrahl des Kapitalismus somit weder aufgeblasene Politthriller (USA) noch Proseminare in Sachen Parlamentarismus (BRD). Stattdessen saugt „Borgen“ menschliche Spannung aus staatlicher Routine, erklärt im Vorübergehen die Funktionsweisen internationaler Politik und verkündet zum Auftakt „The Future is Female“. Wobei nicht erst Dänemarks Zukunft, sondern schon die Gegenwart weiblich ist.

Auf Schloss Christiansborg hält Ministerpräsidentin Kragh (Johanne Louise Schmidt) all jene Zügel fest in Händen, die ihre Außenbeauftrage Nyborg (Sidse Knudsen) mal lockerlässt oder umgekehrt, worüber deren Ex-Beraterin Katrine Fønsmark (Birgitte Hjort Sørensen) als Ressortchefin des Fernsehsenders TV1 berichtet. Im Gegensatz zur deutschen Fiktion, die politisch einflussreiche Frauen seit Angela Merkels Abschied nur noch simuliert, sitzen Skandinavierinnen sogar so selbstverständlich an den Schaltstellen aller vier Gewalten, dass eine Serie wie „Borgen“ noch nicht mal maskuline Knalltüten als Beweiswunder braucht. Katrines Lover Søren (Lars Mikkelsen) und ihr Kollege Friis (Søren Malling), Nyborgs Ex-Mann Philip (Mikael Birkkjær) oder deren umweltaktivistischer Sohn Magnus (Emil Poulsen) dürfen daher Eigensinn entwickeln

Im Ringen um Grönlands Erdöl und Dänemarks Einfluss aber sitzen sie an der Seitenlinie, während die Protagonistinnen das Spiel machen. Originell ist „Borgen“ jedoch erst, weil sie sich dafür nicht zwanghaft männliche Verhaltensmuster aneignen. Birgitte Nyborg kämpft zwar ab und zu mit den Bandagen von Frank Underwoods härterer Hälfte Claire. Anders als die Kartenhausbauerin auf gleichem Kanal jedoch, darf ihr dänisches Pendent Schwäche zeigen – etwa, wenn sie vor einem Fernsehauftritt ihr Hemd durchlüften muss oder darauf besteht, Termine mit ihren Kindern nie zu canceln.

Soweit der Anspruch.

Denn auch in Staffel 4 sind Regeln zum Brechen da – nur nicht aus Prinzip, sondern pragmatisch. Dieser realfiktionale Machthumanismus macht „Borgen“ zur Ausnahme politischer Serien: authentisch, nicht didaktisch. Tiefgründig fesselnd statt effekthascherisch. Auf nüchterne Art geistreich. Und dann hat Netflix noch den dusseligen Untertitel „Gefährliche Seilschaften“ durch „Macht und Ruhm“ ersetzt, was dem Original „Riget, Magten og Æren“ ein wenig näherkommt. Noch näher, machen wir uns keine Illusionen, wird’s nicht.

Die vierte Staffel von "Borgen" steht ab sofort bei Netflix zum Abruf bereit.