Abtauchen ist nicht gleich Abtauchen. Was die einen freiwillig machen, um beim amüsanten Segeltörn durchs Mittelmeer ihr Dinner zu fangen, machen andere unfreiwillig, weil ihr Seelenverkäufer direkt nebenan zu kentern droht – und zwar ausgerechnet, als ihm der Abendessenangler Jan aus höchster Seenot helfen will. Wobei: Helfen, lehrt uns das ZDF ab heute im aufwühlenden Sechsteiler "Liberame", ist auch nicht immer gleich helfen.

Während die Hochseeyacht mit gerade mal fünf Hobbykippern an Bord vor der afrikanischen Küste aufs schrottreife Motorboot mit rund zehnmal mehr Passagieren trifft, geraten die vermeintlichen Retter auch moralisch in schwere See: Schleppen sie das havarierte Flüchtlingsschiff in europäische Hoheitsgewässer ab, machen sie sich der Beihilfe zur illegalen Einreise schuldig. Lassen sie es einfach treiben, verstößt es gegen internationales Recht.

Ein Dilemma: inhuman, kafkaesk, unlösbar – und damit Grundlage einer Fernsehserie, die durchaus das Zeug zum klugen Beitrag der anhaltenden Grundsatzdebatte über den Umgang westlicher Wertegemeinschaften mit Menschenrechten, Anstand, Freiheit, Demokratie haben könnte. Und wie ihn das „Tatort“-geschulte Drehbuch-Duo Astrid Ströher und Marco Wiersch dort hineinfließen lässt, macht zunächst auch abseits der grandiosen Optik einen ungeheuer zielstrebigen Eindruck.

Die woken Werftbesitzer Caro (Johanna Wokalek) und Jan Garbe (Friedrich Mücke) entscheiden sich gegen die Bedenken seiner rassistischen Schwester Fiona (Natalia Belitski) und der befreundeten Anwältin Helene (Ina Weisse), das manövrierunfähige Boot nordwärts zu ziehen. Auch dank Fionas flatterhaftem, aber haltungsstarkem Lover Daniel (Marc Benjamin) siegt Philanthropie über Bedenkenträgerei – bis im nächtlichen Sturm das Abschleppseil reißt und damit sieben Geflüchtete in den Tod, womit die Frage im Raum steht: Unfall oder Absicht? Als der syrische Taxifahrer Ismail (Mohamed Achour) den Garbes Jahre später vor deren Haus in Hamburg auflauert, lautet seine Antwort: letzteres.

Unweit ihrer Werft hat er sich mit seiner Frau Zahra (Kenda Hmeidan) zwar eine Existenz fern ihrer kriegsversehrten Heimat errichtet; doch wie andere Überlebende jener verhängnisvollen Nacht – besonders Ismails Bruder Bilal (Tariq al-Saies) – unterstellt er Jans Crew, die Leine gekappt zu haben. Ein gemeinsames Essen aller Beteiligten bis auf den spurlos verschwundenen Daniel verhärtet die Fronten nur weiter. Und wie Adolfo J. Kolmerer anfängliche Annäherung und anschließende Distanzierung durch kluge Flashbacks mit der Erstbegegnung auf hoher See ins Verhältnis setzt – das ist Serienkunst von internationalem Format.

Ein kurzer Blick ins Portfolio des Berliner Regisseurs aber zeigt, warum sie im zweiten Drittel zu ziemlich deutscher Durchschnittsunterhaltung verkümmert. Wie vor zwei Jahren in der ZDF-Dystopie „Sløborn“ um tödliche Folgen einer Virus-Pandemie auf der titelgebenden Nordseeinsel, zerfasert Kolmerers Serie abermals in einer Art Betroffenheitsprosa, unter der zuletzt auch die ähnliche gelagerte Bootsunglückstragödie „Tod von Freunden“ an selber Stelle litt.

Ursprung allen Zuschauerleids sind hier wie da: dunkle Geheimnisse. Wiersch & Ströher haben die Keller ihrer Figuren so vollgestopft mit Leichen, dass der Yacht- und Serientitel „Liberame“ als Publikumsappell ans ZDF gedeutet werden muss: Erlöse mich! Erlöse mich vom melodramatischen Pathos. Vom mehrdeutigen Schulterblick! Vom Dramenstandard des Fremdgehens im engsten Freundeskreis. Und bitte erlöse mich vom Romeo-und-Julia-Twist (trotzdem großartig: Mina-Giselle Rüffer als 15-jährige Elly Garbe) anbandelnder Nachkommen zerstrittener Clans, ohne die derlei Dramen hierzulande offenbar gesetzeswidrig sind.

Solch ein Ballast im Serienladeraum, der mit 24.000 Leichen Geflüchteter auf See seit 2014 – wie uns das ZDF im Abspann unterrichtet – eigentlich ausreichend gefüllt ist, dient offenbar der Streckung auf sechsmal 45 Minuten und legt den Verdacht nah, dass die Realität im Mittelmeer am Ende nur ein berechenbares Vehikel für den eskalierenden Thriller ringsum ist. Schade eigentlich. Denn Kolmerers Kameramann Christian Huck – mit dem er bereits vier Teile lang die Oberfläche von „Sløborn“ perfektioniert hatte – schafft es gleichsam distanziert und empathisch, die Traumata sämtlicher Charaktere zu visualisieren.

Besonders dem Theatervirtuosen Mohamed Achour, selbst Sohn syrischer Flüchtlinge, gelingt es dabei herausragend, mit der Kraft seiner variablen Mimik allein schon die Erschütterung einer ganzen Generation psychisch wie physisch Bürgerkriegsversehrter in aller Welt spürbar zu machen. Und wenn die unnahbare Spitzenjuristin Helena auf Jans Frage, wie es ihr nach jahrelanger Trennung so gehe, „viel Arbeit und wenig Liebe“ antwortet, bringt das Drehbuch die deutsche Mehrheitsgesellschaft in vier Worten eigentlich ganz gut auf den Punkt.

Darüber hinaus allerdings zeigt sich „Liberame“ abseits der überzeugenden Optik voller Redundanzen – sprachlich, inhaltlich, ach eigentlich überall. Und das ist angesichts der Tatsache, dass Geflüchtete hier jenseits ihrer Fluchtgeschichte ganz gewöhnliche Existenzen haben dürfen und damit endlich mal aus ihrer fiktional zementierten Opferrolle heraustreten echt beklagenswert. In „Liberame“ tauchen zwar mehrere Figuren symbolträchtig irgendwo ein. Fürs Publikum aber gilt das leider nur kurz.

Der komplette Sechsteiler steht bereits komplett in der ZDF-Mediathek. Das ZDF zeigt heute, 5.9. und am Mittwoch, 7.9. jeweils ab 20:15 Uhr drei Folgen am Stück.