Was genau Psychologie ist, können selbst Menschen, die sich beruflich damit befassen, nicht zweifelsfrei beantworten. Irgendwas mit dem Wechselspiel von Kopf und Seele eben, Körper und Geist, Innerem und Äußerem – höchstpersönliches, schwererklärliches, schier unbegreifliches Terrain und somit nichts für Feststellungen, sondern allenfalls Fragen. Wer den Kinder- und Jugendpsychologen der ZDFneo-Serie „Safe“ zusieht, hört jedoch ständig Fragen, die eigentlich Feststellungen sind und umgekehrt.

Grammatikalisch könnte man den Gesprächsfaden der Praxisgemeinschaft im Berliner Speckgürtel als Interrogativen Indikativ bezeichnen: Es hagelt Aussagefragen, mit denen die zwei Therapeuten ihre jungen Schützlinge analysieren. „Du bist ganz traurig, dass du die Aufgaben nicht konntest“, aussagefragt Katinka das Vorschulkind Ronja, als es Rechenprobleme beklagt. „Du schaust dich um“, aussagefragt Tom den achtjährigen Jonas, als er dessen Praxis erkundet. Minimalinvasiv heißt diese Form behutsamer Durchdringung. Sie beschreibt allerdings das gesamte Format.

Schließlich stammt es von einer Expertin für minimalintensive Fiktion. 21 Jahre nach ihrem Welterfolg „Nirgendwo in Afrika“ hat Caroline Link erstmals für den Bildschirm statt die Leinwand gearbeitet. Und das Resultat ist, Achtung Superlativ: nahezu perfektes Fernsehen. Achtmal 45 Minuten zoomt sie (doppelt oscarnominiert) tief in den Alltag von Tom und Katinka, die Carlo Ljubek und Judith Bohle hart am Rand der Dokumentation spielen, nein: sind. Dafür hat Link sie aber auch mit Dialogen und Patienten ausgestattet, die weit übers Drehbuch der Regisseurin hinaus lebendig wirken.

Der sechsjährigen Ronja zum Beispiel dichtet die gleichalte Lotte Shirin Keiling ihre – laut Einblendung – „Diagnose F91 Störung des Sozialverhaltens“ mit einer plausiblen Selbstverständlichkeit an, als wäre sie auch privat impulsiv, einsam, jähzornig. Ähnlich authentisch agiert der Darsteller des zweiten Auftaktfalls: Valentin Oppermann. Seiner Waise Sam (Diagnose F91.2: Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen) droht wegen fortgesetzter Schul- und Autoritätsverweigerung das Heim, was der frühere Kinderstar mit einer zappeligen Streitlust deutlich macht, die er tief aus dem Inneren holt.

Das Skript dagegen gibt eher stichwortartige als buchstabengetreue Textbausteine vor. Besonders ihr junges Personal lässt Caroline Link so laufen wie in der „nicht-direktiven Spieltherapie“ üblich, mit der sich die Regisseurin schon als Schülerin beschäftigt habe, wie sie im ZDF-Interview sagt. „Was soll’n das bringen“, fragt Sam demzufolge, als sein Therapeut von ihm wissen will, ob er wiederkommt. „Was würdest du dir wünschen?“ spielt Tom den Ball zurück. „Keine Ahnung, ich hab‘ mir den Scheiß nicht ausgesucht“, antwortet Sam. „Wenn’s ein Scheiß ist, macht’s natürlich keinen Sinn“, entgegnet der Profi, „aber vielleicht finden wir raus, was du mit deiner Wut machen kannst.“

Diese Zwiegespräche – und „Safe“ kommuniziert größtenteils paarweise – sind auf so kluge Art ergreifend, dass man ewig zuhören, hinsehen, mitfühlen könnte, wenn die vier Doppelsitzungen irgendwo im Nirgendwo beiläufigen Plauderns verlaufen. Caroline Link geht es schließlich nicht um Behandlungserfolge, sondern Wege zur Selbsterkenntnis – auch ihrer eigenen. Fachlich begleitet vom Kinder- und Jugendpsychologen Curd Michael Hockel und seiner Kollegin Dr. Sabine Schlippe-Weinberger brillieren Buch, Regie, Story, Darsteller durch aufrichtiges Interesse an einer so simplen wie komplexen Handlung, deren Charaktere verkörpert, statt bloß gespielt werden.

Safe © ZDF/Julia von Vietinghoff Tom (Carlo Ljubek) versucht gemeinsam mit Sam (Valentin Oppermann), Ziele zu entwickeln, die sie in den Sitzungen erarbeiten und umsetzen wollen, damit dem Jungen ein erneuter Heimaufenthalt und der Verlust seiner aktuellen Pflegefamilie erspart bleibt.

Dank dieser distanzierten Nähe sind Serien wie „In Treatment“ und „En thérapy“, aber auch „Gypsy“ oder „Paare“ fast drei Jahrzehnte nach der bahnbrechenden Sitcom „Frasier“ so erfolgreich, dass sie ein eigenes Genre bilden. Wobei seelenkundliche Fiktionen bewusst am schulmedizinischen Unfehlbarkeitsmythos kratzen. Anders als das approbierte Personal klassischer Arztserien, gibt das diplomierte moderner Psychiatrieserien selten vor, über Wissensvorsprünge, gar Allheilmittel zu verfügen. Im Gegenteil: wenn die sozialgestörte Ronja, der aufbrausende Sam, die panikgestörte Nellie und der depressive Jonas bei Tom oder Katinka sitzen, lautet der meistgesprochene Therapeutensatz in viermal vier Gesprächsstunden, die Niki Reisers achtsam getupfter Pianosoundtrack in je zwei Hälften teilt: „Sag du’s mir“.

Wie sich die Außenposten der Selbstoptimierungsgesellschaft dabei (oft erstmals) gesehen, akzeptiert, ja respektiert fühlen: davon können sich Halbgötter in Weiß gern zwei, drei Anamnesescheiben abschneiden. „Männer wollen, dass man sich auch mal schön macht“, sagt Ronja beim Spiel mit dem Schminkkasten und fügt „für sie“ hinzu. Es ist ein ebenso verstörender Satz für sechsjährige Mädchen – den Katinka neutral lächelnd mit „Aha“ kommentiert, anstatt ihn zu problematisieren, und tonlos aussagefragt: „Wenn du dich schminkst, fühlst du dich schöner.“

Dafür hätten beide jeden Fernsehpreis verdient, wie überhaupt alle hier grimmewürdig agieren – vom beruflichen Hauptcast bis ins Personal privater Randgeschichten. Denn natürlich sind auch Tom und Katinka bei allem Altruismus selber hilfsbedürftig. Ersterer, weil sich seine Tochter (Ella Lee) aus früherer Beziehung von ihm entfremdet; letztere, weil ihre Beziehung zum verheirateten Michael (Christian Erdmann) mindestens ebenso toxisch ist wie jene zum übergroßen Vater (Matthias Habich).

Solche dramaturgischen Nebenflüsse entwässern den Handlungsstrom aber nicht, sondern speisen ihn auch, um den Serientitel zu präzisieren. „Safe“ deutet schließlich darauf hin, wie wertvoll Sicherheit in unserer disruptiven Zeit geworden ist und wie schwierig die Suche danach. Wenn Caroline Link uns dabei ein wenig unterstützt, erklärt sie zwar auch nicht, was Psychologie wirklich ist. Aber genau deshalb liefert sie ja cineastisches Nischenfernsehen der Extraklasse.

Alle acht Folgen stehen ab dem 28. Oktober ein Jahr lang in der ZDF-Mediathek zur Verfügung. Im linearen Programm zeigt ZDFneo ab dem 8. November dienstags und mittwochs ab 20:15 Uhr Doppelfolgen.