Ach, bundesdeutsches Unterhaltungsfernsehen – du bist und bleibst doch die allerärmste Sau am globalisierten Flatscreen. Geplagt von einer Mixtur aus RBB-sendezentrumsgroßem Minderwertigkeitskomplex und ebenso sperrigem Überlegenheitsgehabe, ist der mindestens viert- bis fünftwichtigste TV-Markt auf so provinzielle Art kosmopolitisch, dass er vor Kraft kaum vorwärtskommt und deshalb breitbeinig seitwärts rennt.

Dieser Krebsgang sieht nicht nur seltsam aus, er führt zum rundfunkbeitrags- und werbefinanzierten Stillstand, der sich auch im neuen Programmjahr zeigt. Und weil es sich seiner Kernkompetenzen sicher ist, weil es Selbstzweifel, geschweige denn -kritik nicht kennt oder verpennt, weil es deshalb alles einfach immer wie immer macht, freuen wir uns 2023 auf, Humpahumpahumpatäterääh: ein weiteres "SOKO"-Sequel aus Linz und die nächste "WaPo" im Elbsandsteingebirge, während kein Stoischerer als Heino Ferch als Kommissar der ARD-Reihe "Die Saat" nach Norwegen reist und das ZDF den Vorabend lieber daheim im "Hotel Mondial" verbringt.

Das dürfte etwa so innovativ werden wie eine Kostümserie namens "Bonn", in der die öffentlich-rechtlichen Requisiteure abermals nach Seniorenstiftherzenslust im Nachkriegsfundus grabbeln, bevor Gabriela Sperl nach Flucht, Mogadischu, Stauffenberg mit dem RAF-Attentat auf Alfred Herrhausen mal wieder opulentes Historytainment fürs Erste produziert, wo die Historienserie "Davos" der Kaiserzeit huldigt. Viel Krimi, viel Zeitgeschichte, viel Zeitgeschichtskrimi also wie eh und je für unsere Rundfunkbeiträge, derer es allerdings gar nicht bedarf, um rückwärtsgewandtes Fernsehen zu kreieren.

Denn weil heute und morgen irgendwie unergiebig erscheinen, durchwühlen auch Digitalportale eifrig das Gestern. Disney+ zum Beispiel schickt Iris Berben ins "Deutsche Haus" der Auschwitz-Prozesse. Amazon Prime lässt 20 Jahre später St. Paulis "Luden" im Zeitalter ironiefreier Schnauzbärte auferstehen. Sky verlegt die Überlebenden einer Pandemie von der fiktiven Insel "Sløborn" mangels eigener Ideen aufs pseudoreale "Helgoland 513". Und RTL+ holt "Pumuckl" 13 mal 25 Minuten aus Meister Eders Kiste.

Was das Mutterhaus des früheren Marktführers macht, ist abseits von Tim Raues künftigem Einsatz als neuer "Rach, der Restauranttester" aber fast ebenso wenig der Rede wert wie die private Konkurrenz. Während Sat.1 in der Fiction praktisch nichts mehr selbermacht, setzt die Sendergruppenschwester ProSieben linear auf Joko & Klaas, derweil sich das fiktionale Fenster nochmal fürs Digtalportal Joyn öffnet, wo im Februar die 5. Staffel "jerks." läuft. Da es die letzte ist, droht allerdings auch dort dramaturgisch Dürre.

Das gilt für RTL+ zwar etwas weniger. Aber auch das sechsteilige Kaufhauserpresser-Biopic "Ich bin Dagobert" reist der Generation X knapp 30 Jahre entgegen, was die baugleiche "Story of Wacken" für hiesige Verhältnisse zumindest unerhört klingen lässt. Zentrales Spitzenpersonal übrigens: Mišel Matičević und Sonja Gerhardt hier, Charly Hübner und Katharina Wackernagel dort – womit wir bei Fragen der Kreativität hiesiger Fiktionen kurz mal Halt bei den Abteilungen für Human Ressources machen.

Während die Storylines den unverwüstlichen Dreiklang aus Krimi, Kostümzwang, Biopics wieder und wieder und wiederkäuen, sind Besetzungslisten ganz vorn auch künftig voll gut abgehangener Stars. Obwohl das obere Dritteldutzend des vierteiligen ZDF-Dramas "Was zählt" größtenteils unter 50 ist, bringen es Ronald Zehrfeld, Christiane Paul, Bjarne Mädel, Julia Koschitz zusammen schließlich auf mehr als 300 Filme und Serien. Ähnliches gilt für die Top 4 von Alexander Dierbachs – noch so ein Reproduktionsprinzip: Remake des BBC-Klassikers "Doctor Foster" als "Ein Schritt zum Abgrund" im Zweiten.

Gemeinsam kratzen Florian Stetter, Petra Schmidt-Schaller, Johann von Bülow plus Anna Loos sogar an der 400-Format-Marke und machen Casting-Experimente wie die ZDF-Serie von Frank Schätzings "Der Schwarm" zur Ausnahme im Blockbuster-Fach, wo Leonie Beneschs unvermindert taufrisches Gesicht, neben dem würdevoll gereiften der Fassbinder-Ikone Barbara Sukowa, am prominentesten ist. Bleibt die Hoffnung auf Mediatheken und Streamer wie Netflix, das von versprochenen 500 Millionen für deutsche Serien 2022/23 aber bereits 189,9 ins - direkt schon wieder beendete - "1899" gesteckt hatte. Oder Magenta TV.

Das deutsche Portfolio will die Telekom zwar zügig abwickeln, zuvor aber kommt wenigstens noch Staffel 2 von "Oh Hell" – ein Serienjuwel mit Mala Emde als (Selbst-)Betrügerin, deren elaborierter Irrsinn ähnlich befreiend war wie einst "Piefke Saga" und "Kir Royal". Was wir ebenso brauchen? Mehr Nachwuchs vor den Kameras wie Jeremias Meyer, Zoran Pingel, Lea Drinda und Theo Trebs in Holbein-Adaption "Der Greif" bei Prime Video. Mehr Diversität dahinter, etwa in Gestalt der Regisseurin Soleen Yusef, die den Alltagsrassismus mit "Sam, ein Sachse" für Disney+ greifbar macht.

Dazu mehr originelle Wendungen wie im Netflix-Sechsteiler "Totenfrau" mit der saturierten, aber tollen Anna-Maria Mühe als Nachfolgerin der vorjährigen Stasi-Rächerin "Kleo" an gleicher Stelle. Mehr geistreichen Realismus wie Kida Ramadans Knastkammerspiel "Asbest" bei One. Mehr couragierte Rookies wie Daniel Takla Zehrfeld („Sweat) und Ipek Zübert („Sultan City“), aber auch Ältere im Jungbrunnen, den der 65-jährige "Tatort"-Veteran Christian Jeltsch mit der Sky-Dramedy "Chamäleon" besteigen dürfte.

Weniger brauchen wir noch mehr nebulöse Effekthascherei à la "Dark" oder der Mystery-Serie "Oderbruch" mit Serienkillern und Ex-Polizistinnen im ARD-Unterholz. Und am allerwenigsten brauchen wir ein Serien-Remake mit Kerkeling als Kerkeling im "Club las Piranjas" oder Gottschalk als Gottschalk auf dem Wett-Sofa. Wir schreiben 2023, werte Serien- und Filmschaffenden, nicht 1995/85/75/65/55/45/35/25/15. Bitte macht was draus!