Alles Glück dieser Erde, das würden vermutlich nur eiserne Conny-Fans bestreiten, liegt weniger auf dem Rücken der Pferde als am Wohlergehen unserer Familie. Leiden, Krankheit, Trennung, Tod – schon einzeln betrachtet allesamt Katastrophen, die für Kinder kaum erträglich sind. Darum ist schwer vorstellbar, was in Emmi, Daniel und Vivian vorgeht, als Mama am Abend des eigenen Geburtstags erstochen vorm Küchentisch liegt, wofür auch noch Papa verantwortlich zu sein scheint und festgenommen wird.

Die Maß menschlichen Dramas ist schon nach 20 Minuten des ZDF-Dreiteilers "Gestern waren wir noch Kinder" so voll, dass es in den verbleibenden 190 kaum schlimmer kommen könnte. Doch es kommt schlimmer. Viel schlimmer. Derart schlimm, dass Natalie Scharf zu bemitleiden ist. Immerhin schätzt die Autorin den Anteil privater Bezüge im eigenen Drehbuch, mit dem sie sich unter den 100 anderen, die sie geschrieben habe, "am meisten identifizieren kann", auf stolze "85 Prozent".

Angesichts all der betrogenen und betrügenden, der mitleidserregenden und scheinheiligen, durchgeknallten, unredlichen, armseligen, intriganten, masochistischen und sadistischen Charaktere, lässt das auf ein schwieriges, ja toxisches Umfeld schließen – oder Scharfs Fähigkeit, alltägliche Stärken und Schwächen so geschickt zu verdichten, dass sie fesselnde Thriller wie den hier ergeben. Und das ist "Gestern waren wir noch Kinder", einerseits. Denn andererseits steckt darin ein ärgerliches Paradoxon, das die Kernmerkmale fiktionaler Güte umkehrt: Drehbuch, Drehbuch, Drehbuch.

Diesen Dreiklang nennen Film- und Fernsehschaffende gern, wenn sie Kriterien seriöser Unterhaltung nennen. Und Natalie Scharfs Drehbuch, Drehbuch, Drehbuch enthält vieles, was ein öffentlich-rechtliches Familienmelodram trägt. Vor allem: tiefe Tragik, die am Ende einer emotionalen Achterbahnfahrt sicher auf der Hochebene kluger Wendungen landet. Eben noch sieht der erfolgreiche Anwalt Peter Klettmann (Thorben Liebrecht) seiner Frau (Maria Simon) im Kreis artiger Kinder selig zu, wie sie ihre Torte zum 44. Geburtstag anschneidet, da sitzt er mordverdächtig in U-Haft, wo Kommissarin Lebowski (Anja Schneider) ihn aufs Strengste vernimmt.

Durch ihre Fragen und ständige Flashbacks in die vorangegangenen 25 Jahre erfahren wir, dass seine Tat am Ende einer lebenslangen Kette unglückseliger Ereignisse steht, die sein tyrannischer Vater (Ulrich Tukur) ebenso schmieden half wie Peters depressive Mutter (Karoline Eichhorn), der dubiose Cop Tim (Julius Nitschkoff) oder ein schicksalhafter Unfall beim Abiball. Erst die Montage aber adelt das Panoptikum zur Feldstudie im Milieu gutbürgerlicher Wohlstandsverwahrlosung, der man sich kaum entziehen kann.

Solide Grundlagen für gehaltvolle Spannung 

Trotz gelegentlicher Didaktik ("Ich fahr nicht nach Italien" – "Wie, du fährst nicht mit auf Abi-Fahrt?") und der genretypischen Ansiedlung im stinkreichen Speckgürtel (München) mit entsprechender Infrastruktur (Eliteinternat) – liefert Julia Scharf solide Grundlagen für gut fünf Stunden gehaltvoller Spannung. Hätte sie nur Nina Wolfrum nicht die Regie anvertraut. Bekannt durch eher mittelmäßige Serien ("Heldt") und Tatorte (Köln), dippt sie das Drehbuch so oft in mediokre Stereotypen, bis es nach Scharfs Präferenzreihe "Frühling" mit Simone Thomalla als Simone Thomalla müffelt.

Der Fäulnisprozess beginnt schon mit der Entscheidung, die Story durchs laut verlesene Tagebuch des reuigen Vaters zu erklären – deuten Off-Kommentare doch gern darauf hin, dass Buch und Regie der eigenen Vorlage misstrauen. Wobei sich die größere Fehlentscheidung im Personal und seiner Verkörperung findet. Der Patriarch ist zu gebieterisch und die psychotische Gattin zu irre, Streber sind zu nerdig und Lehrer zu sozialdemokratisch. Während Maria Simon als Peters eifersüchtige Ehefrau geradezu brilliert, schrumpfen diverse Nebenfiguren zu Schmierstoffen handlungsrelevanter Aufgaben ohne Entfaltungsmöglichkeit.

Damit niemand an ihrer Sogwirkung zweifelt, ist Milena Tscharnke als Peters Jugendliebe Luisa zudem auf ähnlich vulgäre Art anziehend wie Mathilda Smidt als Internatsaußenseiterin, die Wolfrums Kostümbildnerin Mirjam Muschel zwanghaft zur Lolita dekoriert, damit ein Missbrauchsverdacht gegen Peter auch optisch plausibel wird. Wobei dessen Tochter Vivi belegt, dass mitunter auch Hauptfiguren fehlbesetzt wurden. Schließlich scheitert die Influencerin Julia Beautx so bedauernswert am Part, Peters älteste Tochter als Ersatzmama ihrer kleinen Geschwister glaubhaft zu machen, dass man der Autodidaktin zum 24. Geburtstag einen Schauspielkursus schenken möchte.

Falls im Lehrgang Filmmusik noch was frei ist, könnten Johannes Brandt und Dominik Giesriegl parallel dann ja lernen, dass kein Soundtrack klingen muss wie die Hits seiner Epoche. Und auch Casting-Direktorin Silke Koch darf mal jemand erklären, dass Erwachsene ihrer Jugendversion zumindest entfernt ähnlich sehen. In Anbetracht aller Inszenierungsdesaster ist es verblüffend, dass sich der Plot ungewöhnlich eigensinniger Frauen gewöhnlich toxischer Kerle so selten im Heu des dilettantischen Bauerntheaters verirrt, sondern im Gegenteil: die Welt im Blick hat, genauer: Brooklyn.

Da es ihr "unerlässlich erschien, die Szene dort zu drehen", ist Scharf für 60 Sekunden Filmsequenz mit Tscharnke auf Privatkosten nach New York geflogen. Beim ZDF, erzählt sie lachend, "hätte man sowas nicht durchgekriegt". Maximaler Einsatz, um die Schönheit an Ort und Stelle ihrer fiktiven Filmkarriere zu sehen. Nur eines wurde nach sechs Stunden Flug vergessen: der Darstellerin mitzuteilen, dass man auch als Deutsche am Broadway nicht ständig grinst wie Glücksbärchis im Spielzeugladen. In Schulnoten gerechnet: Drehbuch, Drehbuch, Drehbuch glatte 2, Regie, Regie, Regie knapp ausreichend.

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Das ZDF zeigt die Miniserie vom 9. bis 11. Januar in Doppelfolgen jeweils um 20:15 Uhr. Alle Folgen von "Gestern waren wir noch Kinder" stehen bereits in der ZDF-Mediathek zum Abruf bereit.