Urlaub hatte auch schon bessere Zeiten – und schlechtere. Rund 3000 Jahre nach der mutmaßlich ersten Wallfahrt antiker Pilger und weiteren 181, seit der englische Unternehmer Thomas Cook bei Blasmusik und Schnittchen für 571 Zuggäste von Leicester nach Loughborough den Massentourismus erfand, haben Flugscham, Krieg, Corona zwar einige Ferientrips verhindert. Kaum galt die Pandemie jedoch offiziell als beendet, reist die halbe Welt wieder wie besessen um die ganze, als gäbe es statt Gestern, Heute, Morgen einzig Eskapismus von A wie Aida bis Z wie Zypern.

Fremdenverkehr, das zeigen Hunderte Zeitschriften, Magazine, Sender und mindestens doppelt so viele Blogs oder Podcasts, dient trotz und wegen all der Krisen einer Flucht in den Augenblick, den es mal mit, meist ohne Nachhaltigkeitsgedanken zu genießen gilt. Punkt, Buchen, Abfahrt, Insta-Stories. Gut – außer, der augenblickflüchtige Fremdenverkehrende heißt Eugene Levy und ist ein Kind der nordamerikanischen Comedy-Schule mit stahlgrauem Haar und Dachbalkenbrauen – selbstgerecht, zynisch, ohne Grimassen oder Gebrüll urkomisch und vor allem: überzeugter Sesselfurzer.

„Das hier ist was für Outdoor-Fans“, sagt er im zweiten Ziel seiner achtteiligen Reportage namens „The Reluctant Traveller“ übers dicht bewaldete Costa Rica, „ich bin ja mehr so der Indoor-Typ“. Obwohl Apple TV den Serientitel nicht korrekt als „Reisemuffel“, sondern „Urlaub wider Willen“ übersetzt, wird zum heutigen Start also deutlich: hier umrundet einer den Globus, der erkennbar daheimbleiben will. Und den Grund trägt dieser eitle, graue Mann von 76 Jahren, dessen Provinz-Sitcom „Schitt’s Creek“ noch mehr Emmys absahnte als seine Pimmelwitzreihe „American Pie“ Feuillton-Verrisse, zu Beginn jeder Folge vor.

Die Erde sei ein Buch, zitiert er „Philosophen“ aus dem Off, die offenbar mobiler waren als Levy, „wer nicht reist, hat nur eine Seite gelesen“. Danach tauchen aus dem Überwältigungsvorspann überwältigender Reisefotos zu überwältigender Musik acht Variationen seiner skeptischsten Gesichtsausdrücke auf und sagen: „Ich habe ein paar Seiten gelesen und bin immer noch nicht scharf aufs Buch.“ Keine gute Voraussetzung für ein Reiseformat und doch die denkbar beste eines journalistischen Genres, das sich pro forma „journalistisch“ nennt, de facto aber populistisch ist, schlimmer noch: oft pure PR.

Das Privatfernsehrelikt sonnenklar.tv kennt ausnahmslos Jubelarien und der Luxushotelblog „ReiseZeit“ keine Dispogrenzen. „Geo Saison“ durchstöbert jeden Winkel vorgestellter Destinationen, die in der „Süddeutsche Zeitung“ auch mal politisch bedeutsam sind. Das ZDF verkleidet sein Cornwall-Marketing in Mordsgeschichten, „National Geographic“ ihre Survival-Strapazen als Selbstermächtigung. Der ADAC verachtet weniger als vier Räder, die „Bike“ mehr als zwei, das „Yacht Magazin“ duldet ohnehin nur Steuerrad plus Rettungsringe an Bord und Eugene Levy?

Fliegt unter James Callums versierter Regie von Lappland nach Costa Rica über Venedig, Utah, die Malediven Richtung Südafrika und via Lissabon (First Class, versteht sich) zur (vorerst) letzten Station seiner Tour du Monde ins hyperurbane Absurdistan Tokio, und was sagt er? „Wenn es kalt ist, fühle ich mich unwohl, wenn es warm ist, aber auch.“ Ergo: wenngleich ihm Apple TV auf jeder Etappe die Präsidentensuite obszön elitärer Fünfsterneresidenzen mit Premium-Blick aufschließt, von wo aus er spektakuläre Sehenswürdigkeiten abseits gekennzeichneter Routen erkundet, die selbst im „Lonely Planet“ fehlen, findet der Berufskomiker eigentlich alles erstmal scheiße.

Levys distinguierter Missmut mag dabei ein bisschen manieriert wirken, selbstreferenziell und verschroben, Tendenz selfscripted reality; die architektonische Stressresilienz venezianischer Pfahlbauten anzuzweifeln, denen der allenfalls übertouristisch bestandsgefährdend geflutete Hotspot seit dem Mittelalter ihren Liebreiz verdankt, riecht verdächtig nach dramaturgischem Zweckpessimismus. Einerseits. Denn andererseits tut dem strukturoptimistischen Metier, das die berichterstattende Zunft für kritiklose Lobhuldigungen besinnungslos pampert, etwas Fundamentalopposition selbst dann gut, wenn sie nicht so ganz von Herzen kommt. Zumindest, sofern ihr Eugene Levys Lakonie zur Seite springt, besser: schreitet. 

Wenn er im Angesicht des finnischen Polarlichts auf entschleunigte Art nüchtern feststellt, Normalreisende kämen hierher, um die Atmosphäre zu fühlen, „aber das Einzige, was ich grad fühle, ist der Gefühlsverlust in meinen Extremitäten“, ist das auch deshalb so unterhaltsam, weil sich rings um sein Markenzeichen, der dicken Hornbrille, kaum ein Muskel bewegt. Nur mal so spekuliert, Carolin Kebekus oder Serdar Somuncu würden an seiner Statt die Welt bereisen – es wäre ein Feuerwerk der drolligen Gesichtsausdrücke.

Levys Zurückhaltung, seine Schlagfertigkeit, beides gepaart mit einer Neugier im Verborgenen – all das macht die dreißigminütigen Ausflüge eines wohlstandsverwahrlosten Reisemuffels angenehm authentisch. Und durchaus selbstkritisch. Egal nämlich, ob er eisangeln geht, Insekten verspeist oder Hillbillys erduldet – am Ende jeder Folge muss sich Levy eingestehen, dass Reisen im besten Sinne des Wortes bildet. Besonders ihn. „Ich mag immer noch keinen Winter“, sagt er im Cliffhanger der ersten Folge, „aber da ist eine Wärme, die von den Finnen auf mich abgestrahlt hat.“ Hoffentlich hält sie länger als zum nächsten Schneesturm.

Die erste Staffel von "Urlaub wider Willen" steht ab sofort bei Apple TV+ zum Abruf bereit.