Wahre Größe, das ist keine Erkenntnis unserer postheroischen Zeit, misst man nicht in Zentimetern. Soweit die Theorie. In der Praxis dagegen dürfte es selbst Menschen ohne Heldenbedarf schwerfallen, auf die inneren Werte eines Teenagers zu achten, der bereits als Kleinkind 25 Kilo wog und Gleichaltrige mit 19 ums Doppelte überragt. Klingt irre, ist irre, muss auch irre sein, wenn Cootie, so heißt das Riesenbaby, Boots Rileys Kopf entsprungen ist.
Mit seiner Blaxploitation-Groteske "Sorry to Bother You", hat der sozialkritische Rapper schließlich schon mal ein preisgekröntes Meisterwerk des magischen Realismus gedreht, das Amerikas Mehrheitsgesellschaft schwarze Selbstermächtigung jenseits physikalischer Gesetzmäßigkeiten vor den rassistischen Latz knallt. Fünf Jahre, einen Kapitolsturm und George Floyds Tod unterm Polizeiknie später nun lässt Riley die Hauptfigur der Prime-Serie "I’m a Virgo" auf vier Meter wachsen und das Tollste: Er meint das völlig ernst. Irgendwie.
Cootie – herrlich linkisch gespielt von Jharrel Jerome ("When They See Us") – kommt zu Beginn der ersten von sieben Folgen dreimal größer als bei Säuglingen üblich im heruntergekommenen Randbezirk der kalifornischen Industriestadt Oakland zur Welt. Mutter und Vater werden nicht weiter erwähnt, weshalb er bei Tante Lafrancine (Carmen Ejogo) und Onkel Martisse (Mike Epps) aufwächst, die den Koloss in spe unter Verschluss halten. Mutanten wie er, erklären sie ihm anhand alter Filme und Bilder, würden schließlich seit jeher verfolgt.
So beschränkt sich Cooties Blick in die weite Welt 18 Jahre lang auf ein Periskop im überdimensionalen Jugendanbau Marke Eigenbau und sein Lieblingscomic „The Hero“, dessen fliegender Superheld exakt jenen Freiraum nutzt, den sein buchstäblich größter Fan so ersehnt – bis passiert, was passieren muss: da Cooties Neugier irgendwann die Angst überragt, geht er nach draußen und lernt im Kreis einer Clique um die klassenbewusste Jones (Kara Young) jene Wirklichkeit kennen, vor der ihn seine Pflegeeltern so lange gewarnt hatten.
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Bing-Bang-Burger zum Beispiel, billiges Junkfood, das – so die Theorie von Martisse – Schwarze gemeinsam mit Werbung und Religion in Abhängigkeit halten soll. Typisch Teenie jedoch sorgt das Verbot erst für Anziehungskraft, weshalb Cootie beim täglichen Besuch der Schnellrestaurants die Kassiererin Flora kennenlernt, gespielt von (ihr Name deutet es an) Denzel Washingtons Tochter Olivia. Spätestens hier wird der Titel seiner Bedeutung gerecht: „I’m a Virgo“ heißt „Ich bin Jungfrau“, was Cootie nach lebenslanger Isolation naturgemäß noch ist.
Ab hier entwickelt sich die Serie daher vom durchgeknallten Kammerspiel zur noch durchgeknallteren Coming-of-Age-Story auf dem steinigen Pfad der Persönlichkeitsentwicklung im feindlich gesinnten Umfeld. Boots Riley indessen wäre kein kommunistischer Black-Power-Aktivist der missionarischen Art, atmete nicht auch dieses Werk aus jeder Pointe Politik. Schließlich gerät Cootie nicht nur in die Fänge von Sekten, Marketing, Boulevard; als medial zum „Monster“ aufgeblasene Person of Colour wird er auch zum Bestandteil antirassistischer Riots, die der vermeidbare Tod eines seiner Freunde auslöst.
Starker Tobak für eine Tragikomödie, die stilistisch zwischen Terry Gilliam, Wes Anderson und Sacha Baron Cohen handelt, also im Spannungsfeld von "Being John Malkovich", "Fabelhafte Welt der Amelie" oder auch "Luzie, der Schrecken der Straße" spielt. Offenbar hat ihn Riley allerdings mit einer bunten Mischung psychoaktiver Drogen versetzt, von der auch sein Team – besonders Ausstattung, Musik, Kostüme – reichlich geraucht haben dürfte und nun ans Prime-Publikum weiterreicht.
Die handwerklich (also nur teilweise am Rechner generierte) Kulissenschieberei seines bastelfreudigen Set-Designs dient nämlich nicht nur der schlichten Illustration zweier (später gar dreier Kategorien menschlicher Ausmaße); sie ist auf selbstverliebt plausible Art so hingebungsvoll, dass man sich kaum sattsehen kann an Miniaturhandys, Riesensofas oder Normhäusern, in denen sich Cootie stellvertretend für seine mehrfach diskriminierten Gesellschaftsrandgenossen andauernd bücken muss. Was Riley darüber hinaus an Aberwitz durchs magische Theater seiner sozialkritischen Einbildungskraft schickt, beispiellose Superhelden (Walter Goggins) und Gaststars (Elijah Wood) zum Beispiel, zehnminütige Sexszenen ohne Sex oder einen Sound, als hätte Debussy Tinnitus – darüber sollte man zum Wohl der Überraschungseffekte jedoch schweigen.
Was hingegen gesagt werden muss: Wer es schafft, dem brachialkapitalistischen Weltmarktdiktator Amazon linksradikal unterwanderte Konsumkritik auf siebenmal 25 bis 50 Minuten Länge ins Videoportal zu schmuggeln, der kann damit vielleicht sogar Amerikas waffenstarrenden Rassismus heilen helfen. Wem das ein bisschen zu viel politischer Auftrag im Entertainment ist, kann sich „I’m a Virgo“ aber auch einfach als Romantic Comedy abseits vom gesellschaftlichen Mainstream anschauen. Falls man wahre Größe doch in Zentimetern misst: Hier sind es 400 sensationell unterhaltsame.
Die erste Staffel von "I'm A Virgo" steht bei Prime Video zum Abruf bereit