Als der Journalist und Dokumentarfilmer Stephan Lamby mit der Langzeitbeobachtung der Arbeit der Ampel-Koalition begonnen hat, dürfte er noch einen ganz anderen Plan für Buch und Film im Kopf gehabt haben. Aber manchmal holt einen die Realität eben schneller ein, als einem das lieb sein kann. Und so kam es am 24. Februar 2022 zum Überfall Russlands auf die Ukraine. Es ist ein Krieg, der die Welt bis heute erschüttert und beeinflusst - und auch ganz besonders die deutsche Politik. Insofern dürfte Lamby schnell gedämmert haben, dass er ein neues Thema gefunden hat.

Und so geht es in "Ernstfall - Regieren am Limit" vor allem darum, wie Deutschland auf den brutalen Krieg Russlands reagiert - aber nicht nur. In der ersten Szene sieht man einen verregneten Flughafen, von hier hob Olaf Scholz am 6. Februar 2022 zu seinem Antrittsbesuch bei US-Präsident Joe Biden ab. Im Flugzeug erzählt Scholz in die Kamera noch, wie er einen Krieg verhindern wolle. In einer nächsten Szene drückt Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt seine Hoffnung aus, im Jahr 2023 darüber zu sprechen, "dass der Kelch an uns vorbeigegangen" ist. 

Es sind Szenen, die mit eineinhalb Jahren Abstand fast schon naiv wirken. Aber natürlich wäre es unfair, Scholz und Schmidt zu unterstellen, sie könnten den Wahnsinn eines Wladimir Putin vorhersagen. Aber tatsächlich waren es ja deutsche Geheimdienste, die den nahenden russischen Angriffskrieg lange auf die leichte Schulter nahmen - anders übrigens als ihre amerikanische oder britische Kollegen. Das wird auch an einer anderen Stelle des Films deutlich, in der Wirtschaftsminister Robert Habeck den deutschen Geheimdienst ziemlich offen ein Versagen in der Sache attestiert. 

Die Liste der Politikerinnen und Politiker, die in dem Dokumentarfilm, den Stephan Lamby mit seiner Produktionsfirma Eco Media auch produziert hat, regelmäßig zu Wort kommen, ist vergleichsweise kurz. Lamby beschränkt sich hier auf die oberste Riege der Bundesregierung: Scholz, Habeck, Außenministerin Annalena Baerbock und Finanzminister Christian Lindner. Andere, wie etwa Verteidigungsminister Boris Pistorius oder auch Ministerpräsident Reiner Haseloff, sind kleine Randnotizen ebenso wie verschiedene Journalistinnen und Journalisten, die das Geschehen zur jeweiligen Zeit einordnen. Auch Mitglieder der "Letzten Generation" kommen zu Wort. 

Ernstfall - Regieren am Limit © rbb/SWR/Kay Nietfeld/dpa An der beliebten Reihe "Politiker starren aus Fenstern" kam auch "Ernstfall" nicht vorbei.

"Wir sind an einem Ort, an dem wir nicht sein wollten. Und wir werden Dinge tun müssen, die wir nicht tun wollten", sagt Grünen-Chef Omid Nouripour kurz nach Kriegsausbruch - und nimmt damit schon vorweg, was die Partei in den kommenden Monaten beschäftigen wird. Waffenlieferungen, AKW-Laufzeitverlängerung und Ausbau des Kohlestroms. Es wurde eine Zerreißprobe, die von Teilen der Gesellschaft und auch vom Boulevard genüsslich thematisiert wurde. 

In dem Film erinnert Stephan Lamby die Zuschauerinnen und Zuschauer dann aber noch einmal daran, welche Gründe zu diesen Kehrtwenden geführt haben. Russland stellte zwischenzeitlich die kompletten Gas-Lieferungen nach Deutschland ein, drohte erstmals mit dem Einsatz von Atomwaffen und tötete in der Ukraine unentwegt unschuldige Menschen. 

Polit-Profis geben sich selbstkritisch

Einen anderen aktuellen Aufhänger hat der Film, als man Annalena Baerbock bei ihrer Reise nach Mali und Niger begleitet. In Niger spricht sie über die Folgen der Klimakrise, während vor dem Präsidentenpalast Luxuskarossen mit Wasser abgespritzt werden. Nach dem Militärputsch in Niger steht das Land wieder im Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit, aber nicht wegen der Klimakrise, sondern wegen seiner vermeintlichen Nähe zu Russland.

Die Politikerinnen und Politiker geben sich in der Langzeitbeobachtung auch durchaus kritisch. Christian Lindner etwa kritisiert die Energiepreispauschale, während Baerbock es bereut, nicht früher in die Ukraine gereist zu sein. Und dann zeigt der Film auch noch sehr gut, welche ganz konkreten Auswirkungen der Krieg Russlands auch auf Deutschland hat. Da bedeutet die von Olaf Scholz ausgerufene Zeitenwende eben nicht nur eine deutliche Erhöhung der Verteidigungsausgaben, sondern auch, nach Saudi-Arabien zu fahren, um dort Deals mit dem Kronprinzen zu machen, der mutmaßlich in den Mord des Journalisten Jamal Khashoggi verwickelt war. 

Das alles sind keine neuen Erkenntnisse, aber in "Ernstfall" kann man noch einmal wie im Zeitraffer sehen, wie geglaubte Sicherheiten in den vergangenen eineinhalb Jahren über den Haufen geworfen wurden. Filmemacher Lamby hält sich dabei stets mit eigenen Äußerungen zurück, ist aber immer wieder in Interview-Szenen zu sehen. Kritik bzw. Gegenstimmen finden in Form von eingespielten TV-Beiträgen, Kommentaren von Journalistinnen und Journalisten oder auch via Protest am Rande von Veranstaltungen statt. Interviews mit Oppositions-Politikern gibt es nicht. Mit ausgewählten Gesprächen hätte man hier noch etwas mehr in die Tiefe gehen können.

"Bild"-Zeitung? Habeck schmunzelt nur

Aber auch so wird deutlich, dass sich die Bundesregierung nie so wirklich einig ist. Robert Habeck etwa sagt im Interview, die Entscheidung über mögliche Panzerlieferungen hätte deutlich früher gefällt werden müssen. Olaf Scholz dagegen sagt: Es war alles so richtig, wie wir es gemacht haben. "Ich der Küche ist es heiß", sagt Scholz, als er von Lamby angesprochen wird auf den internen Regierungskrach. Und Habeck? Der verliert auf Rückfrage zwar kein böses Blut über die "Bild"-Zeitung und will ihr schon gar keine Kampagne vorwerfen - dazu ist er dann trotz seiner hemdsärmeligen Art zu sehr Profi. Zwischen den Zeilen und im Gesicht von Habeck sieht man aber sehr deutlich, was der Wirtschaftsminister von der Zeitung hält: gar nichts. Deshalb hat er ihr bislang auch kein Interview gegeben.

Der Dokumentarfilm endet mit dem NATO-Gipfel in Vilnius im Juli dieses Jahres. Zeitlich gesehen fand der nach dem Aufstand der Wagner-Söldner in Russland statt, der in der Doku nicht näher beleuchtet wird. Das ist schade, weil es sicher spannend gewesen wäre zu erfahren, wie die deutsche Regierung diese dramatischen Stunden erlebt hat. Aber das wäre vielleicht auch schon wieder der Stoff für einen weiteren Film.  

Das Erste zeigt "Ernstfall - Regieren am Limit" am 11. September um 20:15 Uhr.