Es ist im digitalen Zeitalter kaum vorstellbar, wie das früher war, als Telefone groß wie Tabletts mit doppeltem t waren, weil die mit einfachem auch an Bord der „Enterprise“, wie „Star Trek“ damals hieß, nicht vorkamen. Als man beim Anruf dicke Tasten drückte, aber meistens niemand ranging. Als diese Tastendrücktelefone zudem in Zellen mit gelber Schwingtür hingen und Schlitze hatten, durch die man Bargeld warf. Groschen genannt.

Nur drei Jahrzehnte ist das her und doch einige Parsec, wie astronomische Zeitspannen schon bei Captain Kirk hießen, als das ZDF keine fünf Privatkonkurrenten ohne Plattform und Mediathek hatte. Es war aber auch eine Ära, in der Koray Larssens Schnauzbart so ironiefrei war wie sein Minipli überm Lederblouson, während der Polizist aus Hamburg mit einer Landkarte aus Papier durch (ver)blühende Landschaften navigiert, um der dortigen Ordnungsmacht beim Aufbau Ost zu helfen.

So beginnt der gefühlt 869. Fernsehausflug in eine Vergangenheit, die auf nostalgisch dekoriert werden muss, um den gefühlt 870. Ritualmord einer Krimiserie mit Serienkiller optisch akkurat zu lösen. Kurz nach dem Mauerfall also jagt RTL+ mithilfe analoger Methoden ab heute einen Mörder, der sein Opfer nicht nur vergewaltigt, sondern stigmatisiert, damit ein jeder es sehe. Wer hier moniert, das habe es alles schon gegeben, und zwar nicht nur einmal: Stimmt! Oft sogar. Und doch selten so gelungen wie hier.

Die Adaption von Ada Finks Bestseller „Blütengrab“, typisch Deutsch zu „Die Quellen des Bösen“ umgetitelt, ist ja nur oberflächlich der nächste Mystery-Thriller im finsteren Wald, über den Stephan Rick wie in gefühlt 871 Filmen seit Erfindung des Scandi Noir zum dräuenden Soundtrack die Drohne kreisen lässt. Aufgepasst: Hier lauert das Böse! Ein Irrer nämlich, der Leichen mit Runen verziert und im Unterholz drapiert, wodurch der Verdacht schnell auf ein Rudel Neonazis am Rand der fiktiven, aber denkbaren Stadt Wussnitz fällt.

Weil die Grenzen vom wahnsinnigen Waldschrat zum braunen Pöpel bekanntlich fließen, ermittelt Großstadtbulle Larssen (Fahri Yardim) mit Provinzkollegin Bandow (Henriette Confurius) folglich im Umfeld personifizierter Zivilisationsverachtung – verkörpert etwa im halstätowierten Tankstellenpächter Frank (Karsten Antonio Mielke) auf der einen Seite und der neoheidnischen Ingrid (Cloé Albertine Heinrich) gegenüber. Alles sehr rätselhaft, schwer verworren, maximal mit Metaebenen aller Figuren von Belang beladen, die zudem ausnahmslos den Ballast komplizierter Biografien mit sich rumschleppen.

Chronische Bedeutungsschwangerschaft

Und der ist durch all die Wölfe und Raben, Albträume und Narben kaum leichter zu schultern. Wie jeder kriminologische Exzess made in germany leiden auch „Die Quellen des Bösen“ somit am „Dark“-Syndrom chronischer Bedeutungsschwangerschaft, bei der nichts, aber mal gar nichts frei von Handlungsrelevanz sein darf. Umso überraschender, wie sich der Sechsteiler davon mithilfe einer Technik befreit, die Genrestars von Jantje Friese und Baran bo Odar („1899“) bis Sebastian Marka und Erol Yesilkaya („Der Greif“) unbekannt zu sein scheint: Understatement.

Der Writers Room von Headautorin Catharina Junk hat Regisseur Rick nicht nur Dialoge von dezenter Präzision geschrieben; ringsum beweist er auch einen Mut zur Lücke sondergleichen. Gefühle bleiben oft ungeäußert und Gedanken unausgesprochen, Andeutungen unvollendet und Einstellungen unaufdringlich. Dass rechtsradikale Schläger nebst toleranter Nachbarschaft dennoch irgendwie einschüchtern, liegt demnach am gelungenen Storytelling. Es reicht allerdings tief in die hintergründigen Gewerke hinein.

Kostümbildnerin Nici Zinell und Kulissenbauer Olaf Rehbahn haben Mensch und Material so authentisch ausgestattet, dass man sich unter Eingeborenen längst vergangener Zeiten wähnt, nicht nachts im Museum. Selbst eine Tracht Prügel, die Ulli Bandow von ihrer Jugendfreundin Christa (grandios derbe: Angelina Häntsch) kriegt, scheint dank Chris Rossas Maske echt blutige, statt kunstblutige Folgen zu haben. Und dann fährt West-Cop Larsson auch noch Mitsubishi statt Golf; im VW-hörigen ARZDF ein absolutes No-Go.

Die Quellen des Bösen © RTL / Anke Neugebauer Nicht zimperlich: Angelina Häntsch spielt Christa (rechts).

Auch dekorative Details wie diese erlauben es dem Spitzenduo, darstellerisches Niveau zu erreichen, dass von der deutschen Fernsehschmerzensfrau Henriette Confurius auch erwartet werden durfte. Fahri Yardim dagegen spielt sich in seiner unprätentiösen Aufmachung überraschend glaubhaft vom fremdschambehafteten „jerk“ frei. So entwickelt das Zusammenspiel ohne – so viel sei verraten – Erotik eine Form pragmatischer Intensität, die man ihnen trotz und wegen einiger Serienmängel gerne abkauft.

Der Versuch zum Beispiel, unbedingt unheimlich zu sein, wirkt gelegentlich so übergestülpt, als ritten Einhörner durch den „Tatort“. Was – Stichwort Murot – zwar durchaus geschehen kann. Aber eher, um Sehgewohnheiten zu brechen. Hier werden sie gruselfangerecht, also mitunter billig bedient – was die Studie erodierender Milieus noch weniger bräuchte als Ermittlungen, die notorisch nachts erfolgen und Richtung plumpes Actionfinale auch oft mutterseelenallein.

Der Rest aber stellt die Effektkanonade „Dark“ buchstäblich in den Schatten. Oder wie Yardim übers Blütengrab-Biotop zwischen Machtmissbrauch und Fascho-Fantasien im Ambiente analoger Requisiten sagt: „Es ist keine nostalgische Werksschau, kein Museum der 90er, verändert aber deine Wirklichkeit, wenn Leben und Tod davon abhängen, ob die Münzen in der Telefonzelle hängenbleiben“. Vorm Smartphone also – Ältere erinnern sich so dunkel wie der deutsche Fernsehwald.

"Die Quellen des Bösen", verfügbar bei RTL+.