Die Natur hat Gesetze von verblüffender Schlichtheit. Was entsteht, kann vergehen. Was lebt, wird sterben. Kommt daher ein Baby zur Welt, verlässt sie andernorts ein Greis; wenngleich nur selten im Nullsummenspiel einer arithmetischen Kausalität à la Helgoland. Als Amelie dort ein Kind bekommt, soll der alte Raik nämlich die Insel verlassen. Mehr noch: Um nicht aufs Festland zu müssen, springt er von ihrer höchsten Klippe in den sicheren Tod.
So lautet eben das Gesetz einer Sky-Serie, deren Natur von verblüffender Komplexität ist. Seit die Zivilisation jenseits von Watt und Meer infolge einer globalen Seuche kollabierte, hat sich das deutscheste aller Eilande nämlich zum virusfreien Refugium mit strenger Bevölkerungspolitik abgeschottet. Exakt 513 Menschen kann Helgoland ernähren, beschützen, versorgen. Jede Geburt durch einen Suizid auszugleichen, predigt Insel-Boss Beatrice tagein tagaus, sei daher die einzige Chance der Überlebenden.
Zu dumm, dass Amelie unerwartet Zwillinge kriegt…
Nach ihrem Großvater, der sich mit den Worten „seid nett miteinander“ edelmütig ins Verderben stürzt, muss daher noch jemand die limitierte Gemeinschaft verlassen: Das Zweitgeborene also oder ein Erwachsener, der im ausgeklügelten Sozialranking auf Rang 511-513 rangiert? Darüber entscheidet ein neunköpfiger Rat, und zwar zu Lasten der drei Tabellenletzten, unter denen ein erbitterter Wettstreit ums Votum der strikt geburtenkontrollierten Inselbevölkerung entbrennt.
Wer gewinnt, wer verliert, ob überhaupt jemand obsiegt oder letzten Endes alle draufzahlen – das wird hier der Spannung wegen natürlich nicht verraten. Doch in seiner siebenteiligen Gegenwartsdystopie „Helgoland 513“ nimmt Robert Schwentke eine Fantasie-Pandemie zum Anlass, auch jene ins Unglück zu stürzen, die der verheerenden Pest vorerst entkommen sind. Dafür entwirft der schwäbische Showrunner ein scheindemokratisches Zwangskollektiv, das Martina Gedecks Alleinherrscherin Beatrice dominiert.
Während der achtbare – und als einziger Arzt unersetzliche – Marek (Alexander Fehling) mit seinem Sohn Linus (Tobias Resch) mithilfe anrüchiger Menschenversuche im unterirdischen Geheimlabor ein Antiserum sucht, wie die meisten hier also buchstäblich einige Leichen im Keller hat, hält sie die Schicksalsgemeinschaft mit einem Giftcocktail aus Manipulation und Fürsorge, Zuckerbrot und Peitsche gefügig. Dafür wildert der regional („Tatort“) wie global („Seneca“) bekannte Regisseur fröhlich im Fundus mal realer, meist fiktionaler Vorbilder.
Als wäre die bedrückend wahrhaftige „Black Mirror“-Folge „Das Leben als Spiel“ aus der britischen Social-Media-Hölle ins Punktesystem chinesischer Totalüberwachung geraten, versetzt Schwentke sein Helgoland schließlich in ständige Furcht vor Ansteckung, Anarchie oder dem Bruch willkürlicher Regeln wie jene, gegen die der zerzauste Hausmeister Etienne (Bernd Hölscher) verstößt. Um seiner Frau (Maja Schöne) zu helfen, hat er Schmerzmittel aus der chronisch leeren Inselapotheke geklaut.
Resultat: Absturz auf Platz 513 und damit erster, aber keinesfalls letzter Tauschkandidat. Weil Schwentkes Writers Room zugleich in der Schwebe lässt, ob das Virus auf dem fernen Festland überhaupt noch grassiert oder einzig der Disziplinierung dient, erinnert seine Echtzeitfiktion obendrein an Klassiker wie „Flucht ins 23. Jahrhundert“ oder „The Village“. Auch dort wurden die Bevölkerungen isolierter Kollektive einst mit Fehlinformationen manipuliert, um ein totalitäres Machtgefüge zu sichern.
Mit einem Cast, den Anja Dihrberg in cleverer Dosierung aus prominent (Antje Traue & Martin Brambach), stichhaltig (Traute Hoess & Christian Kerepeszki) oder stichhaltig prominent (Maja Schöne & Philipp Hochmeier) mischen durfte, hat Schwentkes Team somit ein gut sechsstündiges Tutorial „Ausnahmezustand für Alphatiere“ erstellt. Zehn Jahre, nachdem seine Co-Autoren Florian Wentsch und Veronica Priefer die Idee im geopolitischen Sog von Flucht, Vertreibung, Ebola vorgestellt haben, wird die Mechanik aus Panikmache und Paternalismus, Denunziation und Eskapismus, Manipulation und Alarmismus in jeder Serienminute deutlicher, ohne dauernden Theaterdonner zu veranstalten.
Gut, die Cyberpunk-Kulisse mit Samuel Finzi als durchgeknalltem Graf von Hamburg, die VFX-Experte Frank Kaminski mit herrlich ruinierter Elbphilharmonie zur postapokalyptischen Trümmerlandschaft dekoriert, ist zwar drei, vier Jahrzehnte zu verwahrlost dafür, dass es noch essbare Dosenravioli oder nagelneue Doc Martens gibt. Und dass sich der männliche Teil einer militärisch gesicherten Festung freiwillig unter die Knute einer Frau begibt, deren Miliz zudem von der schwarzen Mia (Edith Saldanha) geführt wird, widerspricht unserer Zivilisationsgeschichte fast so sehr wie Wärmepumpen in der AfD-Zentrale.
Solche Logiklücken bis hin zum österreichischen Akzent von Mareks norddeutschem Sohn stehen allerdings auch im Kontext des schwarzen Humors, den Robert Schwentke hier gern mal mit bräsigem Schlager wie Howard Carpendales „Spuren im Sand“ untermalen lässt, der offiziellen Inselhymne. Sie hilft ein bisschen dabei mit, „Helgoland 513“ nicht ernster zu nehmen, als es ist, aber ebenso wenig auf die leichte Schulter. Wenn deutsche Seriendystopie öfter mal so seriösen Budenzauber mit moralischer Message veranstaltet, hätte sie ein, zwei Probleme weniger.