Die Ungewissheit des kommenden Winters prägte die MIPCOM 2022, doch nicht immer war es Besorgnis. Ganz im Gegenteil. Viele Produktionshäuser stellen zweieinhalb Jahre nach Ausbruch der Corona-Pandemie fest, dass einerseits das Geschäft dann doch deutlich robuster war als befürchtet und andererseits der Appetit des inzwischen dank neuer AVoD-Angebote diversizifierten Streamingmarktes noch nicht nachgelassen hat. Das lässt bei einigen Häusern die Laune steigen und in weniger dramatischen Zeiten hätte man salopp gesagt: Die Kriegskassen sind gut gefüllt. Das macht die von allen befürchtete, aber schwer abschätzbare Rezession auch zur Chance für Wachstum durch Zukäufe.

Marco Bassett, CEO des schon zuletzt enorm gewachsenen Produktionshauses Banijayi, macht daraus am Dienstag - nach einem Imagetrailer interessanterweise ganz ohne deutsche Produktionen - keinen Hehl. In einer ansonsten MIP-typisch harmlos höflichen Plauderei auf der Bühne des Grand Auditoriums im Palais des Festivals erklärte der 65-jährige Italiener, Größe helfe bei der Bewältigung einer möglichen Rezession. Und: Die Konsolidierung sei noch nicht abgeschlossen, "weder für uns noch für die Branche", so die offensive Botschaft. Er betont aber auch: "Wir wollen unsere DNA dabei nicht verlieren". Eine Herausforderung, die er schon kennen dürfte. Banijay hat ein rasantes Wachstum hinter sich, seit die Branche sich im Herbst 2019 zum letzten Mal in solcher Anzahl in Cannes zu einer Fernsehmesse getroffen hat. 

Die im Sommer 2020 final vollzogene Übernahme von Endemol Shine gab den größten Wachstumsschub für Banijay, das auf dieser MIPCOM mit ihrem neuen und vergrößerten Stand direkt vor dem Palais des Festivals unweigerlich ins Auge fiel. Doch die Shoppingtour ging weiter. In Deutschland übernahm man einerseits Good Times und kürzlich erst das deutsche Produktionsgeschäft von Sony, um es als Noisy Pictures fortzuführen. Noch aktueller ist die Ankündigung der Übernahme des in Dublin beheimateten Produktionshauses Beyond International ("Mythbusters"), die Anfang 2023 abgeschlossen sein soll. Und dieser Deal gibt im Kleinen einen Geschmack auf den Wettkampf der beiden erfolgreichsten TV-Distributoren 2022: Bisher größter Aktionär von Beyond International war die RTL-Produktionstochter Fremantle. 

Als Heimat der international lange extrem gefragten und auch heute noch in vielen Märkten erfolgreichen Castingshow-Blockbuster "Got Talent", "Pop Idol" und "The X Factor" war die RTL-Tochter der große Treiber des Formatbooms der 2000er Jahre. Laut Marktforschung von TheWit, die Co-Gründerin Virigina Mouseler in Cannes präsentierte, sind Banijay und Fremantle im internationalen Formatgeschäft aktuell führend (gefolgt auf Platz 3 von All3Media), wobei der Herausforderer Banijay derzeit sogar Fremantle überholt hat. Wie also präsentiert sich das Produktionshaus der RTL Group in Cannes? Groß und stolz, mit Fokus auf dem internationalen Launch der von Tochterfirma Naked Production realisierten sechsteiligen Dokuserie "Planet Sex", präsentiert vom britischen Model Cara Delevingne. Das Projekt wurde 2020 erstmals mit den Abnehmern Hulu und BBC Three angekündigt. In Deutschland liegen die Rechte bei RTL Deutschland.

Am Montagabend feierte Fremantle sein MIPCOM-Comeback nach der Pandemie auch mit großer Party im eigenen Pavillon am Strand vor dem Palais des Festivals. Die präsentierten Talents auf dem roten Teppich signalisierten die Bandbreite des Produktions- und Distributionshauses, das längst mehr als ist als "nur" eine bekannte Hausnummer für Entertainment-Formate. Gleichzeitig wurde angesichts der Einladung mehrere Hosts der eigenen Castingshow-Formate aber auch deutlich, dass die stabile Performance dieser großen Titel unverändert wichtiges Rückgrat des Geschäfts ist. Mehr Fantasie für künftige Projekte versprühten Fremantle-CEO Jennifer Mullin und ihr COO Andrea Scrosati am Vormittag nach der Party mit einem Gespräch über den vereinbarten Content-Deal mit Angelina Jolie. Die Schauspielerin will mit Fremantle in den kommenden drei Jahren, Film-, Serien- und Doku-Projekte realisieren.

"Sie war auf der Suche nach einem Produktionspartner", sagte Mullin. Kennengelernt habe man sich in Corona-Zeiten über Zoom-Calls. Schnell habe man dann zusammengefunden weil, so Mullin: "Sie möchte ehrgeizige und bedeutungsvolle Geschichten erzählen - und wir können die richtigen Noten und Töne treffen." Es sei allerdings eine flexibel definierte Zusammenarbeit, keine der "goldenen Handschellen", die manche Streamingdienste bei Talent-Deals der letzten Jahre anlegen. Doch weder dieser Deal noch organisches Wachstum wird reichen, um die sehr ambitionierten Erwartungen der RTL Group an die Tochter Fremantle zu erfüllen: Bis 2025 soll das Produktions- und Distributionshaus den Umsatz um 50 Prozent auf drei Milliarden Euro erhöhen. 

 

"Familien werden am Küchentisch sitzen, auf die Energierechnung schauen und feststellen, dass sie sich neun Streaming-Abos nicht leisten können."
Fremantle-COO Andrea Scrosati

 

In einem erfrischenderweise weitaus engagierter geführten Interview von Variety-Redakteurin Manori Ravindran wich Fremantle-Chefin Jennifer Mullin leider einer konkreten Frage nach dem Gerücht, Fremantle interessiere sich für eine Übernahme von ITV Studios, geschickt aus. Doch sie antwortete allgemeiner: "Wir kaufen keinen Umsatz. Wir schauen nach Wachstumsmöglichkeiten", so Mullin,  ergänzt um die Plattitüde: "Wir schauen uns Geschäftstätigkeiten, Kreative und Unternehmen an, die gut zu den Inhalten passen, die wir bereits produzieren." Man sei ohnehin gut unterwegs: 2021 war trotz Corona das umsatzstärkste Jahr in der Firmengeschichte und 2022 sehe bereits besser aus.

Doch das weitaus aggressivere Wachstum von Banijay und die Zielvorgaben der RTL Group treiben den lange unangefochtenen Platzhirschen des Formatgeschäfts zu größeren Akquisitionen, wenn man die Spitzenposition verteidigen will. Ähnlich wie Banijay-CEO Marco Bassetti sieht auch das Fremantle-Duo dafür Chancen im bevorstehenden Winter, dessen Auswirkungen auf die Produktionskosten von den beiden im Übrigen heruntergespielt wurde. Einen positiven Effekt dürfte die befürchtete Krise nach Einschätzung von Fremantle-COO Andrea Scrosati hingegen für das neue Feld der werbefinanzierten Streamingdienste haben: "Familien werden am Küchentisch sitzen, auf die Energierechnung schauen und feststellen, dass sie sich neun Streaming-Abos nicht leisten können."

Streamingdienste waren auch für Banijay-CEO Bassetti ein wichtiges Thema, allerdings mit deutlicher Kritik an den Total-Buy-Outs einiger Anbieter. "Es ist nicht fair, Talente um alles zu bitten, und wenn Projekte dann ein großer Erfolg werden, bekommen sie nichts", so Bassetti, verbunden mit dem Wunsch nach mehr Transparenz zu Nutzung und Erfolgen von Produktionen. Nach vorne gerichtet sagte er: "Wenn man Produzenten die Möglichkeit gibt, zu reinvestieren und einen Teil der Rechte zu behalten, werden sie einen besseren Job machen. Für uns ist es einfach – wir geben mittel- oder langfristig gerne etwas Marge ab, wollen aber mehr Rechte behalten."

Von einer lähmenden Wirkung angesichts weltpolitisch und wirtschaftlich herausfordernden Rahmenbedingungen konnte bei dieser MIPCOM in Cannes jedenfalls keine Rede sein. Fast fühlt man sich an in Deutschland diesen Sommer berühmt gewordene Worte eines selbsternannten Weltverbesserers erinnert: "Krise kann auch geil sein." Die Konsolidierung zieht an, da sind sich alle einig - egal ob sie es selbst wollen oder durch Erwartungshaltung und Verteidigung dazu gezwungen sind. Aber wer kauft nun wen? Und wer bringt sich in diesen bewegten Zeiten damit in die bessere Ausgangsposition? Dass Banijay größter Herausforderer von Fremantle wird - vor drei Jahren war das noch nicht absehbar. Kein Wunder, das diesmal kaum jemand eine Prognose abgeben will, die mehr als zwölf Monate in die Zukunft reicht.