Am Ende haben es alle vorher gewusst. Gab ja keinen Zweifel. Lang genug lag alles offen, und jeder konnte hinschauen. Das Opfer ist in bedauernswertem Zustand. Zerfetzt, zerrissen und bis zur Unkenntlichkeit verblichen. Trotzdem kein leichter Fall für das neue Berliner Ermittler-Duo. „Was haben wir bis jetzt“, sagt die Kommissarin immer wieder, und ihr aufmüpfiger Assistent versucht sich mit einer kecken Entgegnung. „Swag“, sagt er, obwohl er nicht weiß, was das heißt. Ja, spruchstark ist er, aber am Tatort behält sie die Oberhand.
Rückblende. Schon Monate vor der Tat war abzusehen, was kommen würde. Wer Augen hatte, hinzuschauen, sah früh, dass es um Gewalt geht. Beinahe könnte man sagen: sanfte Gewalt, wenn denn Gewalt überhaupt je sanft sein kann. Als sanft gilt Gewalt, wenn sie nicht auf einen Schlag über das Opfer hereinbricht, wenn sie sich anschleicht und unmerklich Besitz ergreift. Zu Beginn fällt das Atmen schwer, dann schwächelt die Konzentration, und kurz vor dem Ende stellt sich eine Lähmung des Gesamtapparates ein. Man hätte das kommen sehen können, aber wer leistet sich schon das genaue Hinschauen. Hinterher ermitteln ist immer leichter.
Im bislang letzten „Tatort“ aus der Hauptstadt, in dem noch die stadtbekannten und inzwischen zur Abservierung freigegebenen Schluffis Ritter und Stark die ewig und ausführlich staunenden Kommissare darstellen sollten, gab es einen schönen Dialog zwischen zwei Ermittlern. Ob es besondere Auffälligkeiten bei den Tätern gegeben habe, fragte einer. „Nicht für Berlin“, sagte eine Kollegin. Nicht für Berlin. Will sagen: In Berlin ist nicht auffällig, was in anderen Städten für einen veritablen Auflauf vor dem Rathaus gut wäre. In Berlin ist auch das Verbrechen alltäglicher.
Im neuen Fall gibt es nur eine knappe Beschreibung der Täter. Sie treten gerne in Gruppen auf. Gemeinsam sind sie stark. Allein sind sie nichts. Für das Opfer ist es egal, wie die Täter drauf sind, am Ende ist es tot.
Die von Kan Zlerin passabel gespielte Kommissarin Kermel ahnt natürlich früh, wo der Hase läuft. Aber sie sagt nichts. Sie profitiert schließlich von der Unwissenheit der Masse. Man tut sich als Zuschauer schwer, aus ihrer Mimik etwas zu lesen. Sie steht einfach da, lässt sich von ihrem impulsiven Assi die Lage schildern und sagt dann: „Wir müssen zu einer gemeinsamen Lösung finden.“ Das bringt Hauptinspektor Brückstein (Kan Didat) regelmäßig schwer in Rage. Warum nicht gleich mal ein paar Türen eintreten und die Kavallerie einreiten lassen? Dann werden sich die Täter schon stellen.
Früh ist bei diesem Fall klar, dass es sich nicht um einen Einzeltäter handelt. Es sind viele beteiligt. Jeder ist verdächtig. Erst gegen Ende verdichtet sich der Verdacht. Die Täter bekommen ein Profil. Auf Phantombildern sind sie zu sehen. Schwer bewaffnet mit Kameras, Mikrofonen und Schreibblocks. Sie tarnen sich mit Bedeutungshuberei. Sie geben vor, etwas herausfinden zu wollen. Aber sie suchen letztlich doch nur nach Mitteln, die eigene Position zu stärken. Wichtig ist nicht, wer am Ende Täter und wer Opfer ist. Das Ich entscheidet.
Auch die Tatwaffe lässt sich schnell beschreiben. Es ist keine Bombe, keine Pistole, es ist eine ungeheure Masse an Sendungen, die sich alle nur um ein Thema drehen und genau dieses verschleiern anstatt Klarheit in die Sache zu bringen. Sie fühlen sich mehr an wie die Übertragung eines Hunderennens und stellen die Fragen „Wer hat die Nase vorn?“ und „Wie spannend wird es noch?“ über alle Problembeschreibungen.
Die Bilanz fällt furchterregend aus. Wie viele Politiker mussten sich wie viele dumme Fragen stellen lassen? Wie viele Bewerber durften nicht lachen über grenzdebile Spielchen, weil sie sonst doof dagestanden hätten? Wie viele Moderatorendarsteller sind beinahe erstickt an ihrem übergroßen „Ich tu’s für Deutschland“-Ego? „Es geht doch gar nicht um die Wahrheit, es geht doch nur noch darum, diese Sache irgendwie zu Ende zu bringen“, sagt Brückstein in einer kurzen erhellenden Szene dieses höchst unambitionierten Möchtegernkrimis. Er sagt das so betont resigniert und leise, dass beinahe nur Kommissarin Kermel ihn hören kann. Er sagt es aber laut genug, dass auch der aufmerksame Zuschauer etwas mitbekommt und damit zum Mittäter wird.
Niemand ist unschuldig an diesem Tatort. Alle haben damit zu tun. Alle hätten verhindern können, dass die Begeisterung für die Bundestagswahl erstickt wurde am sinnlosen Übermaß der Nichtigkeitsbeschreibung. Nun liegt die Begeisterung als Opfer am Boden und nährt weniger Mitleid als vielmehr die Hoffnung, dass die Leiche nach dem kommenden Sonntag möglichst tief verscharrt werden möge.
Vorher aber stehen Kommissarin Kermel und Hauptinspektor Brückstein am Sonntag um 20.15 Uhr noch einmal wie trauernde Elefanten über der Leiche. Irgendwie aber ist ihren Gesichtern auch ein Stück Befriedigung anzusehen. Es ist vollbracht. Man muss sehr genau hinschauen, um das zu erkennen. Oder man kennt sich aus im Lesen besonderer Zeichen.
Am Ende lächelt Brückstein sein berühmtes wissendes Ziegenlächeln, und Kermel postiert sich direkt über dem Opfer. Sie fragt nicht erneut „Was haben wir bis jetzt“, sie formt mit den Händen eine Raute. Man hätte es wissen können.