Preisverleihungen leben gemeinhin davon, dass der Zuschauer gespannt ist, wer ausgezeichnet wird. Nach diesem Maßstab war die 43. Goldene Kamera ein totaler Reinfall – als Aufzeichnung vom Mittwoch konnten allenfalls noch jene überrascht werden, die in den letzten 48 Stunden vor der Ausstrahlung weder Fernsehen geschaut noch Zeitung gelesen hatten. Hinzu kam, dass die wirklichen Superstars des Abends (Robert DeNiro, Hilary Swank, Chuck Berry) sich keiner Konkurrenz stellen mußten. Sie bekamen ihre Preise auf jeden Fall. Welche Hollywood-Legende würde schließlich nach Berlin reisen, um vielleicht einen Statuette entgegen nehmen zu können?
Nein, Aktualität und Spannung waren in diesem Jahr nicht die Stärken der Goldenen Kamera, und die Veranstalter täten gut daran, im nächsten Jahr wieder live auf Sendung zu gehen. Außerdem wäre es sinnvoll, den Zuschauern daheim das Prozedere wenigstens ansatzweise zu erklären: warum werden manche Preisträger nominiert, manche jedoch direkt ausgezeichnet? Wieso zeichnet die TV-Zeitschrift Hörzu einen Music Act aus, aber für eine Kategorie „Beste TV-Serie“ reicht es dann nicht mehr? Weshalb wird mehrfach darauf hingewiesen, dass man die öffentlich-rechtlichen Sender nicht bevorzugt behandelt – wenn mit Stefan Raab nur ein einziger Preis an die Privaten geht? Das war kein Zufall, das war Konzept: immerhin wurde hier viel „Lebenswerk“ ausgezeichnet, und dafür ist das kommerzielle Fernsehen einfach nicht alt genug. Auch die Lautatoren waren selten unter der Pensionsgrenze (Dieter Wedel, Christiane Hörbiger, Mario Adorf, Frank Elstner). Ohne die eingestreuten „jugendlichen Elemente“ hätte diese Goldene Kamera mit den gleichen Beteiligten auch 1988 über die Bühne gehen können. Inklusive Kylie Minogue und Moderator Thomas Gottschalk.
Ach ja, Thomas Gottschalk. Bei ihm hatte man das Gefühl, nicht nur die US-Autoren seien im Streik. Jeden launigen Spruch schon tausendmal gemacht, jede Geste von „Wetten dass...?“ recycelt. Und die schrägen Anzüge sind schon lange kein Markenzeichen mehr, sondern nur noch Marotte. Aus dem einstigen Sonnyboy der Fernsehunterhaltung ist eine Moderationsmaschine geworden.
Und dann der arg verzweifelte Spagat zwischen national und international, zwischen jung und alt, zwischen leichter Muse und großem Anspruch: Hört Jürgen Vogel wirklich Tokio Hotel? Hat Bill Kaulitz keinen Manager, der ihn davon abhält, bei der Preisverleihung dummes Zeug zu reden? Muß man Kylie Minogues Krebserkrankung thematisieren, bevor sie im sexy Kleidchen über die Bühne hüpft? Ist Barbara Schöneberger mittlerweile so unvermeidlich, dass sie auch hier dünn singen muß? Kann man Chuck Berry den Playback-Auftritt nicht ersparen, dessen rauschendes Band vermutlich Mitte der 60er aufgenommen wurde? Könnte Til Schweiger seine Laudatio auf Hilary Swank auch weniger steif und offensichtlich vom Teleprompter ablesen? Wer ist der Zahnarzt von Helen Schneider – und der Schneider von Thea Gottschalk? Weiß Maybritt Illner wirklich nicht, dass der US-Politiker nicht MATT Romney, sondern MITT Romney heißt?
Es gab also mehr als genügend Gründe, sich aufzuregen, sich zu langeweilen, sich zu schämen. Warum also trotzdem zuschauen? Die außergewöhnlichen, ergreifenden Momente – sie waren in den vielen Clips versteckt, mit denen die Nominierungen vorgestellt wurden: „Contergan“, „Polizeiruf 110“, „Bella Block“, „Ich wollte nicht töten“. Hier war Weltklasse zu sehen. Es war ausgerechnet Dieter Wedel, der als Laudator für den besten TV-Film die vielleicht wichtigste Erkenntnis des Abends aussprach: „Uns allen in der Jury... war nicht klar, wieviel gute Filme in einem Jahr... zu sehen sind“. Gäbe es sonst keinen Grund für eine solche Veranstaltung, dann doch diesen: Bei all der Häme, die Kritik & Publikum oft über den Sendern ausschütten, ist das deutsche Fernsehen doch immer wieder zu Ausnahmeleistungen fähig. Es ist eben nicht alles „Sturm der Liebe“, TV-Filme existieren auch jenseits von „Rosamunde Pilcher“. Wer sich über die ewig gleichen Seifengesichter beschwert, der brauchte an diesem Abend nur die Clips von Ludwig Trepte anschauen, dem Gewinner des Nachwuchspreises. Das Talent ist da, allen Unkenrufen zum Trotz.
Wirklich bewegend wurde es dann, als mit Biolek jemand auf der Bühne stand, der das Label „TV-Legende“ tatsächlich verdient. Hier zeigte das Fernsehen, woher es kommt, wer es formte, und was es in seinen Sternstunden sein kann. Es ist diese Tradition, die gerne vergessen wird, wenn über Dschungel-Camps und Container-Prekariat lamentiert wird.
Am Ende des Abends blieb die Erkenntnis, dass das deutsche Fernsehen besser als sein Ruf ist – und besser als diese Goldene Kamera.