Im Sommer 1993 ist eine Titelgeschichte im "Spiegel" erschienen, die das Hamburger Nachrichtenmagazin in den vergangenen Monaten schwer beschäftigt hat. Unter der Überschrift "Der Todesschuss" berichtete Hans Leyendecker über einen missglückten Terroreinsatz in Bad Kleinen. Damals kamen ein Polizist und der Terrorist Wolfgang Grams ums Leben. Der "Spiegel" berichtete kurze Zeit später unter Verweis auf einen Zeugen, wie ein Polizist Grams erschossen haben soll. Das Wort "Exekution" stand im Raum.
Der Fall hatte auch politische Konsequenzen. Der damalige Bundesinnenminister Rudolf Seiters trat zurück, Generalbundesanwalt Alexander von Stahl wurde in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Schon kurz nach der Veröffentlichung kamen Zweifel an der Glaubwürdigkeit des angeblichen Zeugen auf. Der Ex-Generalbundesanwalt von Stahl war es, der die Aufarbeitung 2018 ins Rollen brachte. Er wandte sich nach Auffliegen der Relotius-Affäre an das Magazin. "Mich interessiert noch heute: Hat es den Zeugen gegeben, oder hat Leyendecker ihn erfunden?". Die Führungsspitze des Magazins hat daraufhin die Aufklärungskommission mit der Prüfung beauftragt.
Das Ergebnis ist nicht eindeutig. Das Magazin spricht von einem "journalistischen Fehler", die Rede ist von "mangelhaft geprüften und falschen Aussagen". Die Fehler seien aber nicht nur Leyendecker anzulasten, heißt es vom "Spiegel". So hätten die redaktionellen Kontrollen und die Überprüfung durch die Dokumentation versagt. Wolfgang Grams hat sich sehr wahrscheinlich selbst umgebracht, auch wenn die genauen Umstände seines Todes nie vollständig geklärt wurden. "Die Untersuchung der Kommission kam zu spät, um auf alle Fragen klare Antworten zu bringen. Beteiligte sind teils verstorben, Erinnerungen verblasst, Unterlagen vernichtet", so das Fazit der Aufklärungskommission.
Knackpunkt ist der angebliche Zeuge. Ihn hat es wohl tatsächlich gegeben - dem "Spiegel" liegt ein Transkript eines Gesprächs zwischen Leyendecker und dem angeblichen Zeugen vor. Nur die Frage der Glaubwürdigkeit bleibt unklar. Außerdem behauptet Leyendecker, es gebe auch einen weiteren Zeugen. Neben einer Aussage des damaligen Chefredakteurs Hans Werner Kilz gebe es dafür aber "keinen weiteren Anhaltspunkt", so die Kommission, die damit die Glaubwürdigkeit von Leyendecker und Kilz infrage stellt.
Leyendecker habe "leider keine Hinweise ergeben, die es der Kommission ermöglicht hätten, seine Darstellung zu prüfen", so die Kommission. Auch die Frage, ob er einen Kontakt zur damaligen Quelle herstellen könne, habe dieser unter Hinweis auf den Quellenschutz verweigert. Die Kommission glaubt: Leyendecker habe einem anonymen Anrufer Glauben geschenkt und daraus die Geschichte gemacht.
Und was sagt nun der inzwischen pensionierte Leyendecker zu den Vorwürfen? Er weist sie zurück und greift die "Spiegel"-Kommission an. "Dass der 'Spiegel' den Quellenschutz im Grunde nicht respektiert, ist für jemanden, der fast zwanzig Jahre für dieses wichtige Blatt gearbeitet hat, nicht nachzuvollziehen. Die Frage der Kommission, ob ich einen Kontakt zu der damaligen Quelle herstellen könne, war eine Bankrotterklärung der heutigen 'Spiegel'-Macher", sagte er gegenüber der dpa. Leyendecker bezeichnet den Abschlussbericht der Kommission als "unredlich und unseriös". In der Vergangenheit hatte sich Leyendecker bereits dafür entschuldigt, seinem Zeugen geglaubt zu haben. Aber er bleibt dabei: Es gab zwei Zeugen.
Der ehemalige "Spiegel"-Chefredakteur Hans Werner Kilz spricht in der "SZ", die er auch mal leitete, von "Rufmord". Es sei unverschämt, die Untersuchung in einen Zusammenhang mit dem Fall von Claas Relotius zu bringen. "Ich war 24 Jahre lang beim Spiegel, als Reporter, Ressortleiter, Chefredakteur. Mir ist völlig unverständlich, wie ein amtierender Spiegel-Chefredakteur ein solches Machwerk wie diesen Bericht veröffentlichen kann. Der Informantenschutz ist für einen anständigen Journalisten heilig", so Kilz.