Die Hoffnung auf das nächste globale Hit-Format ist in Zeiten einer weltweit diversifizierten Bewegtbild-Landschaft schon länger nicht mehr die Erwartungshaltung mit der die TV-Branche ins südfranzösische Cannes reist. Je nach Werbedruck schaffen es einige Formate oder Serienprojekte zwar, sich bei der MIPTV ins Gespräch zu bringen, doch haben in den Vorjahren die Monate danach oft gezeigt, dass die größte Werbekampagne noch keine Verkaufs- geschweige denn Publikumserfolge erzeugt. 

Was also lässt sich ablesen an diesen Tagen in Cannes? Es ist die Gewichtung in den Katalogen der großen internationalen Distributoren und die Vielzahl der Produktionen in den diversen Genres, die einen Einblick geben in die gerade offenbar vielversprechendsten Programme. Bei der deutlich geschrumpften MIPTV 2022 spielen in diesen Tagen beispielsweise Highend-Serien - trotz des zeitgleich stattfindenden Festival Canneseries - im Vergleich zu den letzten Messen vor der Pandemie eine vergleichsweise kleine Rolle. Ebenso unterrepräsentiert sind diesmal neue Show-Formate. Einzelne Ausnahmen mögen die Regel bestätigen.

Reeperbahn Special Unit FD65 © RBB/Gebrüder Beetz Filmproduktion Reeperbahn Special Unit FD65
Verstetigt hat sich der schon zuletzt erkennbare Aufstieg des Factual-Genres, das in seiner Highend-Form und gern als Serie inzwischen die gleiche Bühne erhält wie Highend-Fiction. Ein Genre das lange von Masse lebte, um Sendeplätze zu füllen, entdeckt dank höherer Budgets und gestiegener Nachfrage die Klasse für sich. Kreative wie Distributoren jubeln: Der Wert hochwertiger Dokumentationen oder Doku-Serien wird besser bezahlt als früher und eine Produktion wie z.B. die TrueCrime-Serie „Reeperbahn Special Unit FD65“ von Gebrüder Beetz Filmproduktion bekommt in Cannes - wie schon bei der Berlinale - die Bühne wie einst fiktionale Serienprojekte.

Auch Jens Richter, Geschäftsführer von Fremantle Media International, schwärmte schon im Vorfeld der Messe von der neuen Bedeutung des Genres in seinem Portfolio. Was man sonst vielleicht fürs Image mitgeschleppt hat oder am Ende des Katalogs erwähnte, stößt inzwischen auf größeres Interesse. In hochpolitischen Zeiten durch Pandemie und Krieg scheint das erhöhte Bedürfnis nach Verständnis der Welt einerseits und das aus dem fiktionalen gelernte serielle Erzählen andererseits zu helfen. Wenn es übrigens fiktionale Stoffe sein sollen, dann sind diese bei der MIPTV 2022 so oft wie noch nie „basierend auf einer wahren Geschichte“. Realität und Relevanz punktet wie selten zuvor, gerade nach der großen Serienwelle der vergangenen Jahre.

The Courtship © Banijay "The Courtship"
Doch es gibt auch das genaue Gegenteil: Den abgedrehten Eskapismus, der seit Jahren schon bevorzugt aus dem Trendgenre Dating kommt und sich 2022 fortsetzt. Es ist kein Ende in Sicht in einem Genre, das zunehmend durch High Concept und Reality-Elemente geprägt wird. Dem Zufall überlassen wird in diesem Genre schon lange nichts mehr. Period Dating ist das Buzzword der MIPTV 2022: Datingshows die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in vergangene Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte katapultiert - in Formaten wie „Back to love“ aus Italien, „The Courtship“ (Banijay) aus den USA oder „Palace of Love“ aus Polen. Der Erfolg des Netflix-Hits „Bridgerton“ lässt grüßen. 

Die Formate funktionieren in kurzen Trailern zunächst einmal über die mal opulente, mal alberne Optik. Ob das auch inhaltlich trägt, wird man in Deutschland wohl zuerst bei ProSieben verfolgen können, wo man sich schon im vergangenen Jahr das Period Dating-Format „Love is King“ von ITV Studios gesichert hat. Doch auch über das Kuppeln in historischen Kostümen hinaus mangelt es nicht an Dating-Ideen: Mal sollen die Hunde den perfekten Partner ermitteln („Dating with dogs“), mal die besten Freundinnen oder Freunde („Tunnel of Love“, Sony). MGM glaubt an Dating im Gym („Fitness Flirt“). 

Open House: The Great Sex Experiment © Channel 4 "Open House: The Great Sex Experiment"
Bei Warner Bros. gibts mit „The Big D“ eine Datingshow für Geschiedene und in Großbritannien startete gerade erst „Open House: The Great Sex Experiment“, wo es um polygame Beziehungen geht. Gut, ganz so neu ist das nicht. Formate wie „Temptation Island“ spielen seit Jahren mit Untreue und Seitensprünge. Abseits von Dating in allen Varianten ist der Nachschub im Entertainment in diesem Jahr überschaubar: Einige Rateshows sind vom „The Masked Singer“-Erfolg inspiriert, setzen z.B. auf die Frage welcher von vier Kandidaten ist unbekannterweise laut DNA-Test mit einem Promi verwandt („Fame in the Family, Fremantle). Bei ITV Studios’ „Rat in the kitchen“ gehts um die Suche des Saboteur in einer Kochshow.

Vielversprechende Ausnahmen von der Regel: „The Next Restaurant“ von Fremantle wirkt wie eine zeitgemäße Weiterentwicklung von „Mein Restaurant“, was einst einmal bei Vox lief und NBC Universal hat mit „One Question“ eine zunächst mal für UK realisierte Quizshow im Gepäck, bei der nur eine einzige Frage zu beantworten ist, um 100.000 Pfund zu gewinnen. Der Haken: Es gibt 20 mögliche Antworten, die mit Geschick und etwas Hilfe reduziert werden können. Doch das sind die Ausnahmen bei dieser MIPTV 2022, deren Trends nach Volumen der angebotenen Produktionen zweifelsohne bei Dating und Factual liegen.