Der ESC-Countdown läuft. Von heute an sind es nur noch 21 Tage, bis Abor & Tynna Europa eins auf die Ohren ballern – und optisch hoffentlich auch. Dann könnte sich vielleicht, vielleicht in Basel das Wunder wiederholen, was einst Lena Meyer-Landrut in Oslo vollbrachte mit Hilfe ihres Entdeckers Stefan Raab. Dieser ist inzwischen das alte neue Gesicht von RTL. Den Eurovision Song Contest hat er bekanntlich zur „Chefsache“ gemacht. Nichts anderes als ein Sieg kommt für ihn in Frage.
Fragt sich: Was hat in dieser Stefan-Raab-Ego-Show eigentlich noch die andere Chefin des ESC zu melden? Also Alexandra Wolfslast, die als „Head of Delegation“ auf der öffentlich-rechtlichen Partnerseite die Verantwortung für den Gesangswettbewerb trägt?
Seit die NDR-Redakteurin vor fünf Jahren dieses Amt von Christoph Pellander übernahm, ist viel passiert, nur nicht viel Erfreuliches. Wolfslasts Erfolgsbilanz ist, um es vorsichtig zu formulieren: bescheiden. Hätte Isaak im vorigen Jahr in Malmö nicht den 12. Platz ersungen, wäre die Liste von deutschen Letzt- und Vorletztplatzierten noch länger und noch deprimierender geworden.
Dabei kann man ihr wirklich nicht vorwerfen, dass sie nicht Always on the run gewesen wäre, um den Song Contest in Deutschland aus der Krise zu führen.
Ein Fan interner Selektion
Mal klassischer Vorentscheid, mal Songwriting-Camp, mal Experten-Jury, mal mit internationalem Knowhow, mal mit deutscher Radio-Expertise, mal mit und mal ohne Publikums-Voting: An Experimenten im Auswahlverfahren mangelte es nicht. Wobei Wolfslast nie einen Hehl daraus machte, dass sie Fan von einer internen Selektion ist, weil man dadurch auch an bekanntere Künstlernamen herankäme, die nicht unbedingt durch ein öffentliches Casting geschickt und womöglich beschädigt werden wollten.
Allein, der durchschlagende Erfolg aller Versuche blieb aus, sowohl beim ESC als auch im ARD-Programm. Die vorletzten beiden Pre-Shows dümpelten im Ersten kurz vor Mitternacht.

Die 69. Ausgabe des Musikfests ist also Alexandra Wolflasts letzte als Delegationschefin. Und es könnte zugleich ihr Triumph werden, Raab sei Dank.
Mit ihm wurde plötzlich möglich, was sie sich wohl in ihren kühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können: ein deutscher Vorentscheid in der Primetime und nicht nur einmal, sondern gleich an drei Samstagabenden bei RTL und im Ersten. Es waren allesamt tolle Shows mit überraschendem Quotenerfolg, es war gute Unterhaltung, bei der Raab „nichts neu, aber alles richtig“ gemacht hat, wie mein Chef hier auf DWDL.de zurecht befand.
Musste also erst ein Stefan Raab kommen, um den ESC zu retten?
„Offensichtlich“, antwortet Alexandra Wolfslast lachend und mit einem leichten Krächzen in der Stimme. Die Vorentscheide, die Partys, die Proben, die Vorbereitungen für das große Finale in Basel, nicht zuletzt Tynnas Erkältungsvirus, das vor Ostern auch bei der Entourage zuschlug, hätten ihre Spuren hinterlassen, entschuldigt sie sich für die kleine Unpässlichkeit, um dann fortzufahren:
In die Verhandlungen, die ARD-Unterhaltungskoordinator Andreas Gerling und NDR-Programmdirektor Frank Beckmann mit Raab Entertainment und RTL geführt hätten, sei sie nicht involviert gewesen. Ein paar Jahre zuvor, 2022, war sie noch mit Gerling nach Köln zu einem ersten informativen Gespräch gereist, um bei Raab, der damals noch TV-Rentner war, vorzufühlen. Das nun geschnürte Gesamtkonzept habe offensichtlich so überzeugt, „dass wir gleich mit vier Shows in der Primetime stattfanden“. Der ESC habe in Deutschland „wieder größere Relevanz“, bilanziert Wolfslast. „Das ist auch Stefan Raab zu verdanken.“
Über das Miteinander mit Mister ESC wird der Head of Delegation in unserem gesamten Gespräch kein einziges böses Wort zu entlocken sein. Sie spricht von „Zusammenarbeit auf Augenhöhe“ und lässt nur kurz Zweifel aufkommen, als sie sagt: „Je mehr Player man im Spiel hat, desto diffiziler sind die Abstimmungen. Das musste sich erstmal einruckeln.“
Das lassen wir erst mal so stehen. Denn wir müssen klären, wie sie zum ESC-„Spiel“ überhaupt kam.
Ein anderer Zugang zu Künstlern und Musik
Dass sie im Frühjahr 2020 als Delegationschefin benannt wurde, hat wohl niemanden mehr überrascht als Alexandra Wolfslast selbst. Bis heute hat sie nicht herausgefunden, wie Thomas Schreiber, damals als ARD-Unterhaltungskoordinator für den ESC zuständig, auf sie gekommen ist. Denn persönlich kannten sie sich vorher nicht. Er war beim NDR-Fernsehen, sie beim NDR-Radio.
Was Schreiber ihr lediglich einmal sagte: „Er wollte keinen klassischen Fernsehredakteur, sondern jemanden mit einem anderen Zugang zu Künstlern und Musik. Für den ESC holt man sich ja nicht einfach einen Act und lässt ihn einmal in einer TV-Show auftreten. Der Weg dorthin ist komplizierter.“
Wie man junge Talente sucht und findet, bei welchen Labels und Showcases man sich herumtreiben muss, wie das Künstler-Booking geht und das Kümmern um die empfindsame Künstler-Seele, auch das ganze Marketing drumherum: Darin hatte die Hörfunkredakteurin und studierte Event-Managerin Erfahrung. Das NDR 2 Soundcheck Festival für neue Musik zum Beispiel war Wolfslasts „Baby“, wie sie es nennt. Sie zog es acht Jahre lang groß, bis Corona dem Live-Event in Göttingen eine Zwangspause verordnete. (Danach kam es nie mehr wieder auf die Beine.)
Und noch eine für ein Riesenevent wie den ESC nicht unwesentliche Fähigkeit brachte Wolfslast mit.
Sie, die zwar am 22. Mai 1967 in Hamburg geboren wurde, aber in der Messestadt Hannover aufwuchs, jobbte schon während ihres Studiums (Germanistik, Politologie und Psychologie, aber ohne Masterabschluss) auf der Cebit und Co. für das amerikanische Logistik-Unternehmen TWI, für das sie später als Büroleiterin Messen in Brasilien, Dubai und sonst wo auf der Welt organisierte.
Sie machte da nicht nur die Erfahrung, dass Amerikaner „sehr demanding“ sein können: „Kunden, die dir gegenüber sehr ungehalten sind, während drumherum die Halle abgebaut wird – also, mich kann nichts mehr schocken.“ Das habe sie „wahnsinnig gelassen gemacht“, wenn etwas nicht wie eigentlich gedacht funktioniert. Und nicht zuletzt habe sie die Arbeit auf Messen in Teamführung und Projektstrukturierung geschult.
Im Prinzip, findet Wolfslast, sei es egal, ob man eine große Messe, ein Musikfestival oder den ESC organisiere: „Es ist am Ende immer ein Projekt. Da geht es darum: Wie strukturiere ich es? Wie motiviere ich mein Team?“
"Wenn du das nicht machst, bist du doof"
Den Leitsatz ihres Senior-Chefs bei TWI, Stephen J. Barry, „There is always a room for improvement“, nahm Wolfslast mit zum NDR. Auch dort hatte sie als Studentin schon gejobbt, in der damals noch Serviceline genannten Zuschauerredaktion. Ab 2001 arbeitete sie für die Pop-Welle NDR 2 in der Abteilung Programm Management Off-Air und plante und betreute diverse Marketing-Kampagnen des Senders. Zum 1. Dezember 2019 wechselte sie in die NDR Fernsehabteilung Fiktion und Unterhaltung. Und hatte es von da an mit dem Sorgenkind ESC zu tun.
Musikalisch war das „schon sehr anders“ für Alexandra Wolfslast. Für das Soundcheck-Festival hatte sie internationale Top-Acts wie Ed Sheeran, Shawn Mendes und Dua Lipa auf die NDR 2 Bühne geholt. Aber sie hatte keine Vorbehalte: „Der ESC ist die größte Musikshow der Welt. Insofern dachte ich mir: Wenn du das nicht machst, bist du doof.“
Der NDR wiederum hatte keine Vorbehalte, der Fernsehunerfahrenen wenig später auch „Inas Nacht“ anzuvertrauen, diese feine Programmperle aus einer Hamburger Hafenpinte, in der noch gesungen werden darf, was nicht „Radio-tauglich“ ist (um das böse Totschlagargument aus dem Eklat über die Nicht-Nominierung der Eskimo Callboys zu verwenden). Weil es sich um eine Auftragsproduktion von Beckground TV handelt, hat Alexandra Wolfslast als Redaktionsleiterin auf NDR-Seite zwar nicht so viel zu sagen wie beim ESC. Aber wenn sie eine Schnittmenge zwischen diesen beiden Shows benennen müsste, dann diese: „Es ist die Liebe zur Musik.“
Sie sei immer wieder erstaunt über das „sehr gute Händchen für neue, frische Musik“ von Ina Müller und deren Producer Mathias Wallerang und äußert sich begeistert über Entdeckungen wie zuletzt Lola Young. „So was gibt es sonst im deutschen Fernsehen sonst fast gar nicht. Den Mut, noch unbekannte Künstler zu zeigen, hat außer Ina vielleicht noch der ESC.“
Und Stefan Raab auch, oder?

Auf die Frage, wie viel sie neben Raab noch zu sagen hatte, teilt Wolfslast ihre Antwort auf. Zuerst: „Wenn man sich für Stefan Raab entscheidet, der den ESC als persönliche Herausforderung betrachtet, dann muss man ihn auch machen lassen.“ Und packt dann sogleich wieder die Diplomatin aus: „Aber es war eine gute und konstruktive Zusammenarbeit mit ihm.“
Zum großen Finale in Basel, das die gemeinsame Arbeit idealerweise mit ganz vielen „12 Points for Germany“ krönen soll, reisen die beiden ESC-Granden gemeinsam an, im Sonderabteil der deutschen Bahn. So ist jedenfalls der Plan (einen Bahn-Witz verkneifen wir uns hier). Startpunkt ist für die NDR-Abteilung am 7. Mai in Hamburg, direkt im Anschluss an das OMR-Festival, wo Abor & Tynna vorsingen.
Auf Abschiedstour
Schon vor der Abfahrt fühlt sich Alexandra Wolfslast „wie ein Künstler auf Abschiedstour“. Sie sei „ehrlicherweise etwas wehmütig“. Hinter ihr lägen turbulente fünf Jahre, „jeder ESC war anders“, aber immer eine „unglaublich tolle Erfahrung“.
Am Ankunftsort liegt die Verantwortung dann wieder voll beim NDR, für die Inszenierung und das ganze Drumherum, auch wenn Wolfslast erklärend hinterherschiebt: „Wir haben natürlich ein Interesse daran, dass es im besten Einvernehmen mit Stefan Raabs hohen Ansprüchen geschieht.“ Auf jeden Fall sollen seine Ideen mit drin sein, wie der NDR gemeinsam mit Black Skull Creative und Marvin Dietmann, dem Creative Artistic Director, den deutschen Act inszeniert. Eine eher bescheidene Lichtshow wie die beim Vorentscheid in Köln wäre für Basel „definitiv zu wenig“, das sei allen klar gewesen, deshalb hätten sie die Inszenierung „komplett neu gedacht“.
Wir sind gespannt. Und können Alexandra Wolfslast natürlich nicht aus dieser „Nahaufnahme“ entlassen, ohne sie um eine Prognose zu bitten, wo Deutschland diesmal beim ESC landen wird. Ganz hinten oder ganz vorne?
„Das vorauszusagen, schafft nur Stefan Raab“, antwortet sie mit einem Lachen. „Aber ich sag’s mal so: „Wenn wir das alles so auf die Bühne kriegen, wie wir uns das vorstellen, werden wir nicht schlecht abschneiden. ,Baller‘ ist ein außergewöhnlicher, junger, fresher Song.“
Und wenn Raab Recht behält mit dem Sieg? „Wenn wir gewännen, dann bleibe ich dem ESC erhalten.“ Der SWR übernehme zwar die Delegationsarbeit, aber der NDR werde den Wettbewerb im eigenen Land produzieren. „Das gehört zum Deal. Dann hätte ich noch ein Jahr sehr viel mit dem ESC zu tun.“
Die Daumen sind doppelt gedrückt! Wir alle wollen doch nicht, dass sich am Ende bewahrheitet, was Tynna singt:
Hast „Baby tut mir leid“ gesagt zum erstеn
Mal Hätt wissen soll'n, dass das das Ende von uns war