Im Seuchen-Talk von Markus Lanz war es, Ende März, da konnte man, liebe Freunde der Sonne, bestaunen, wie die sonst so bedacht auftretende Mai Thi Nguyen-Kim aus ihrer Haut fuhr, als hätte sie zehn Tassen schwarzen Tees intus: Der Virologe Hendrik Streeck saß da und beklagte sich gerade, die Medien hätten Schuld an der Lagerbildung in Team Öffnung und Team Vorsicht. Da hakte sie, die Wissen-Erklärerin und ehemalige NaWik-Dozentin, ein und haute ihm, dem Heinsberg-Forscher, mit dem Satz "Sie sind, mit Verlaub, schrecklich naiv" eigenes Verschulden durch Kommunikationsversagen um die Ohren, dass es in denselben klingelte. Den darauf folgenden Beef zwischen den beiden stoppte jäh der Sendungsschluss, der Nguyen-Kim einmal mehr frustriert zurückließ: Nein, Talkshows und sie, das ist eine Hassliebe, weil konstruktives Streiten kaum möglich ist.

Nun wird die Lanz-Nummer sehr wahrscheinlich nicht ihr letzter Ausflug ins Talk-Gemetzel gewesen sein. Schon gar nicht auf jenem Sender, der die vielfach ausgezeichnete Wissenschaftsjournalistin vom "Quarks"-WDR abgeworben und vertraglich an sich gebunden hat als zweiten Fixstern im hauseigenen Wissenschaftsuniversum neben Harald Lesch. Der promovierte Physiker steht im ZDF seit 2008 für die populäre Vermittlung von harter Naturwissenschaft. Mit der promovierten Chemikerin Nguyen-Kim bekommt er nun eine Rakete an die "Terra X"-Seite.

Wie in einer Kettenreaktion reiht sich bei ihr rasant Erfolg an Erfolg. Um aufzuzählen, was dieser disziplinierte Geist mit Harvard-Background allein in den letzten Monaten geschafft hat, muss man Luft holen: Bundesverdienstkreuzträgerin, Merkel-Reden-Inspiratorin, "Journalistin des Jahres", erfolgreichste Youtuberin des Jahres, Förderpreisträgerin des Deutschen Fernsehpreises, Bestseller-Autorin, Meinungsgeberin in "Tagesthemen" und "heute-journal". Und neuerdings auch noch Mutter. Sie selbst kann’s kaum fassen. Und ihr Vater erst recht nicht, wie sie in der kuscheligen "NDR-Talkshow" erzählte: Chemiker wie sie, war der Papa perplex, als sie ihm nach dem Doktor eröffnete, ich mach‘ nicht weiter mit Chemie, ich mach‘ jetzt Youtube: Ist Reden über Wissenschaft denn auch ein Beruf? Und ob.

Mai Thi Nguyen-Kim © ZDF/Svea Pietschmann/Dirk Staudt
Noch während sie die Doktorarbeit schrieb, traute sie sich raus aus dem Labor. 2015, da war die Tochter vietnamesischer Eltern aus Hemsbach an der Bergstraße 28, startete sie ihren ersten Youtube-Kanal, "The Secret Life of Scientists", und zwar ohne die stereotypen Accessoires weißer Wissenschaftskittel und blubbernde Erlenmeyerkolben, sondern mit Hotpants und Hiphop-Beats: In "Dancing Drug Delivery", ihrem allerersten Video, vertanzte die Doktorandin Wirkstoffe gegen Krebs, an denen sie forschte. Also ganz das Gegenteil von dem verrückten Professor Konrad Stöckel ("Wenn’s stinkt und kracht, ist’s Wissenschaft") aus Luke Mockridges Schul-Show. Nguyen-Kim war schon damals der Überzeugung: Ich bin doch kein Freak. Wissenschaft ist massentauglich und kein Nerd-Wissen, worüber man in seiner Freizeit staunen kann wie über eine Schmetterlingssammlung, ach wie schön, aber jetzt packen wir die mal wieder weg.

Nein, Wissenschaft ist nach Nguyen-Kims Definition ein wesentlicher Teil unseres alltäglichen Lebens, das vor großen Herausforderungen steht: Wie schützen wir das Klima? Wie ernähren wir die Welt nachhaltig? Was ist mit grüner Gentechnik, was mit Künstlicher Intelligenz? All diese Themen seien gesellschaftlich, ethisch, moralisch und politisch hochinteressant, und es lägen ihnen komplexe wissenschaftliche Zusammenhänge zugrunde. Leider, hört man ihren Stoßseufzer aus der großen weiten Skype-Welt, fehle es den meisten Menschen an wissenschaftlicher Allgemeinbildung, "und das ist derzeit fatal: Wenn ich gar nicht weiß, was ein Virus eigentlich ist, dann kann mir ein veganer Koch das Blaue vom Himmel erzählen".

Inzwischen ist aus Nguyen-Kims Hobby Youtube einer der meistabonnierten Wissenskanäle Deutschlands geworden, fast gleichauf mit dem ZDF-bekannten "MrWissen2go" Mirko Drotschmann; "maiLab" läuft ebenso unter dem öffentlich-rechtlichen Dach von funk. Das aus den Videos bekannte Holzregal vor türkisgrüner Wand erkennt man sofort, als sich Nguyen-Kim aus dem eigenen Kellerstudio nahe Frankfurt meldet. Und, na klar, der obligatorische Tee, stets ein wichtiges Youtube-Requisit, darf nicht fehlen. Ganz schnöder Früchte- oder Kräutertee ist meist drin. Um vor der Kamera auf Touren zu kommen, braucht Nguyen-Kim nix Aufputschendes.

Einen dritten promovierten Wissenschaftler hat die teetrinkende Akademikerin in diesem Jahr in ihr Rechercheteam von funk eingefordert und weniger Sendezeit dazu. Sie hat all das bekommen, Corona macht’s möglich. "Wir sind Profiteure dieser Krise", gibt die Frontfrau von maiLab zu, deren Erklärvideo "Corona geht gerade erst los" vor ziemlich exakt einem Jahr ihrem Kanal einen Boost über die Eine-Millionen-Abonnenten-Grenze verschaffte. Aber es gibt auch viel mehr zu tun. Mit der Größe des Kanals ist nicht nur Nguyen-Kims Bekanntheit gewachsen, sondern auch die Verantwortung, wissenschaftlich korrekt zu informieren. Auf ihrer Plattform könne sie Zusammenhänge erklären und so tief ins Detail gehen, wie sie es für notwendig halte, und "Sachen loswerden, die ich loswerden muss". Das sei auch der Grund für ihre "Hassliebe" zu Talkshows: Im wichtigsten Moment, wenn man ansetzt zum konstruktiven Streit, kommt der coitus interruptus.

Medienschaffenden sollte es zu denken geben, wen sie da verprellen. Wir können froh sein, dass es so harte Knochen gibt wie Melanie Brinkmann, die immer noch die Nerven haben, in die Talkshows zu gehen.

Dass Corona-Koryphäen wie Christian Drosten und Sandra Ciesek solche Rederunden scheuten, kann Nguyen-Kim "sehr gut nachvollziehen". In deren NDR-Podcast "Coronavirus-Update" könnten sie die Grautöne zeichnen und differenziert erklären. "Wo sie es nicht können, gehen sie nicht mehr hin." Medienschaffenden "sollte es zu denken geben, wen sie da verprellen", findet die Post-Doc-Wissenschaftlerin, "wir können froh sein, dass es so harte Knochen gibt wie Melanie Brinkmann, die immer noch die Nerven haben, in die Talkshows zu gehen."

Sie selbst geht dann aber doch ab und an hin. Weil sie sich denkt: "Im Zweifelsfall sitze lieber ich dort als jemand anderes, der die große Reichweite für irgendeinen Unsinn ausnutzt." Da hält es Nguyen-Kim mit Harald Lesch, der schon vor Jahren in einem Interview sagte: "Was Unsinn ist, muss als Unsinn benannt werden. Dafür nehme ich jedes Medium, das ich kriegen kann." Auf heute übersetzt im Mai Thi-Sprech: "Am besten sind wir Wissenschaftsvermittler überall. Am besten sind wir auch eine Seuche." Mehr von ihrer Sorte, also von wissenschaftsjournalistischer Expertise, täte politischen Redaktionen generell gut: "Wissenschaftsjournalisten sind keine Fachexperten, aber sie können sehr wohl den wissenschaftlichen Konsens erkennen und Aussagen von Experten, die sich oft als Autoritäten gerieren, entsprechend einordnen und hinterfragen."

 

Mai Thi Nguyen-Kim © Youtube "Corona geht gerade erst los" von Mai Thi Ngyuen-Kim war 2020 das meistgesehene YouTube-Video in Deutschland

Aber natürlich redet ein Youtube-Star wie Nguyen-Kim umso lieber bei Lanz & Co., wenn sie für ein neues Buch werben kann. Da hat die Wissenschaftsdurchblickerin die verkaufsfördernden Mechanismen des PR-Systems Talkshow schon sehr gut durchblickt.

Wie viel "Markus Lanz" oder die "NDR Talkshow" dazu beigetragen haben, egal. "Die kleinste, gemeinsame Wirklichkeit“ stürmt gerade die Sachbuchverkaufshitliste. Es handelt von der Schädlichkeit von Drogen ("Kein Alkohol ist auch keine Lösung") und Videospielen ("Auf die Größe kommt es an"), der Erblichkeit von Intelligenz ("Die große Matschepampe aus Genen und Umwelt"), den biologischen Unterschieden zwischen Frauen und Männern ("Gewollt, aber nicht gekonnt?") oder der Sicherheit von Impfungen ("There’s no glory in prevention"). Vordergründig geht es darin nicht um Corona – Vertrag und Exposé des Buchs waren schon 2019 fix und fertig. Aber natürlich taugt dieser "fundamentale Faktencheck" auch für die derzeit größte aller Streitfragen.

Grundthese ist, um es mal auf den saloppen Nenner zu bringen: Streiten ist echt kompliziert und unspaßig geworden. Es gibt nur noch Schwarz oder Weiß. Aber hey, da sind noch andere Farben. Die finden wir aber nur, wenn wir von einem gemeinsamen Faktenfundament ausgehen. Die Erde ist eine Scheibe? Weg mit dem Quatsch. Damit hat schon Galileo genug Zeit vergeudet. Lasst uns vorwärts streiten und dort, wo Zahlen und wissenschaftliche Erkenntnisse noch fehlen, gemeinsam um die beste Lösung ringen. "Vielleicht", endet Nguyen-Kims gedrucktes Plädoyer, "macht Streiten so auch wieder Spaß."

Schön wär‘s. Definitiv ein Riesenspaß war Nguyen-Kims Show-Einlage in einem Sketch mit Carolin Kebekus. "Auch Wissenschaftler haben Gefühle" hieß der und wurde, aus Corona-technischen Gründen, vorigen Mai in ihrem Wohnzimmer aufgenommen. Die "Caro" drückt darin die Gefühle aus, die Wissenschaftler wie Nguyen-Kim eigentlich nicht zeigen dürfen. Sprich: Sie führt sich wie ein Urwaldaffe auf. Das, was später bei Lanz passierte und Nguyen-Kim als "Maximum an Contenance verlieren" bezeichnet, war dagegen lauwarm. "Caro war so laut. Wir mussten meine Nachbarn vorwarnen", erinnert sich ihre Sketch-Partnerin.

Mai Thi Nguyen-Kim © ZDF/Svea Pietschmann/Dirk Staudt
Die "Caro" wird sie im Übrigen dabei unterstützen, sich bühnentechnisch weiterzuentwickeln. Denn Nguyen-Kim soll ja nicht nur im ZDF-Hauptprogramm bei "Terra X" tüfteln, sondern ab Herbst auf ZDFneo auch was Eigenes moderieren. Seit Jahren spuken ihr dafür Ideen im Kopf herum. Und sie hätte nie gedacht, "dass ich mal ein Team finde, wo wir auf einer Wellenlänge viben und meine Ideen zusammen umsetzen". Zum Team gehört die bildundtonfabrik, die ehemalige Böhmermann-Clique. Was völlig Neues fürs lineare Fernsehen soll da entstehen, mit "Aktionen" und so. Aber, erklärt die Show-Chefin: `"Wir nehmen die wissenschaftsjournalistische Arbeitsweise sehr, sehr ernst. Wir wollen die Leute nicht influencen und auch niemanden auflaufen lassen. Wir wollen in erster Linie wissenschaftlich korrekt informieren." Solange beim Inhalt keine Kompromisse gemacht werden, nichts verkürzt und unverständlich wird, ist sie "für so viel Spaß zu haben, wie es nur geht". Von der legendären "Knoff-Hoff-Show" mit Joachim Bublath und Dixie-Band im ZDF dürfte Nguyen-Kims Show-Ding allerdings ziemlich weit entfernt sein.

Bleibt zum Schluss die Frage: Wie steht es eigentlich um ihren jetzigen Beziehungsstatus zum WDR?

2018 wurde Mai Thi Nguyen-Kim Nachfolgerin von Ranga Yogeshwar in der Moderation von "Quarks" (im Wechsel mit Ralph Caspers). Mit den Kollegen sei sie "sehr gut und sehr traurig auseinandergegangen". Dass sie die Chance ergriffen habe, im ZDF eine eigene Show aufzuziehen, bei der sie auch noch die inhaltliche Hoheit habe und nicht nur das Gesicht hinhalte, hätten dort alle verstanden. "Niemand war mir böse." "Quarks" sei eine "wirklich tolle Redaktion". Sie finde aber, "sie könnten ein paar mehr Ressourcen haben". Deshalb war sie froh, dass Range Yogeshwar bei "Zapp" Tacheles redete, man müsse sich nicht wundern, wenn bei Wissenschaftsredaktionen eingespart werde. "Das sehe ich ähnlich. Man braucht die Leute, die Wissenschaftsjournalismus finanziell möglich machen."

Alles also mal wieder eine Frage des Geldes. Da kann man so lange vorwärts streiten, wie man will, liebe Freunde der Sonne.