Rainer Beaujean sorgt sich ein bisschen. Von den Damen aus der Kommunikationsabteilung hat er soeben gelernt, dass er in diesem Teams-Call einmal nicht über Zahlen reden werde. Das ist ihm nicht geheuer. Doch die Sorge kann man ihm nehmen. So ganz lässt sich das Thema nicht aussparen, will man näher ran an diesen Mann, der sich am 26. März 2020 aufmachte, den börsennotierten Konzern ProSiebenSat.1 aus der Zahlenmisere zu führen, was ihm trotz andauernder Pandemie ja auch zu gelingen scheint. Seit diesem Mittwoch liegen die Q1-Ergebnisse frisch auf dem Tisch. Sie sind erneut besser geworden. Ein leichtes Umsatzplus, Chapeau!

Die Strategie muss deshalb unbedingt sein: so viele Zahlen wie irgend möglich unterbringen in diesem Porträt über den ProSiebenSat.1-Vorstandssprecher Rainer Beaujean, der von sich sagt: „Auch wenn ich zusätzlich Finanzvorstand bin, machen mich pure Zahlen allein nicht glücklich. Ich brauche schon auch Inhalt und Kontext dazu.“

Okay, gehen wir zuerst „Beyond Bilanz“. So wie im gleichnamigen Vorstandspodcast, wo Rainer Beaujean zum Geschäftsabschluss 2020 ein wenig privat wurde.

Mindestens genauso gerne wie über Zahlen redet er offenbar über seine Familie, seinen Hund und seinen Fußballverein. Drei Söhne hat er, zwischen zehn und Mitte 20 Jahre jung, alle von derselben Frau, was auf eine gewisse Bodenständigkeit hindeutet. Auch die Heimatscholle Neuss, wo er am 18. September 1968 geboren wurde, gab er für den Beruf nie ganz auf. Was von seiner tief verwurzelten, aber leidvollen Fanliebe zum Bayernverlierer Borussia Mönchengladbach (8. Mai: 0:6!) zu halten ist? Nun ja, in München-Unterföhring sind sie tolerant. Am Konzernsitz lässt sich der oberste Chef ohnehin selten blicken, wegen der Schutzmaßnahmen vor dem irren C. Gleich zu Pandemiebeginn war Rainer Beaujean sogar einer der ersten, der sich nach Kontakt mit einem infizierten Mitarbeiter aus Düsseldorf in häusliche Quarantäne begeben musste. Die Bilanzpressekonferenz wurde damals verschoben.

Rainer Beaujean © ProSiebenSat.1 / Florian Bachmeier
Ein Jahr später, in besagtem Podcast, erinnert er sich, wie im ersten Lockdown plötzlich alle fünf Beaujeans plus Labrador Cooper unterm Dach in Meerbusch bei Neuss enger zusammenrücken mussten und wie er als einziger ohne Zimmer zum Arbeiten dastand. Mit Milliarden jonglieren und über kein eigenes Plätzchen verfügen? Hat was. Inzwischen hat Rainer Beaujean, nein, kein Kind rausgeworfen, sondern das Gästezimmer „annektiert“. Das Christkind brachte Monitor und Webcam. Und bald ist schon sein zweites Jahr bei ProSiebenSat.1 rum.

Zum 1. Juli 2019 wechselte der studierte Diplom-Kaufmann vom Verpackungsspezialisten Gerresheimer in Düsseldorfer zum Medienspezialisten in Unterföhring. Gerresheimer ist derzeit wegen der Produktion von Impffläschchen Börses Liebling. Hätte Beaujean die Aktien, die er zum Einstieg als CFO erwarb, so wie er es immer tut, wenn er irgendwo neu anfängt, behalten, dann wäre er heute (Stand 14.5.: 91,40 Euro) fein raus. Aber er verkaufte bei 74 Euro und investierte in die ProSiebenSat.1 Media SE, die seit 19. März 2018 im MDAX gelistet ist. Letztlich war es der bessere Deal, weil die bessere Performance. Denn seit Max Conze im turbulenten März vor einem Jahr überraschend das Unternehmen verlassen musste und Aufsichtsratschef Werner Brandt den Finanzchef Rainer Beaujean auf den Topchefsessel im Triumvirat mit Wolfgang Link und Christine Scheffler setzte, hat sich der Kurs verdoppelt.

Nicht, dass ihn das über die Maßen zu interessieren scheint. „Der Aktienkurs ist für mich kein Leistungsindikator“, sagt der Finanzprofi, der zu Schulzeiten anderen Mathe-Nachhilfe gab. Er schaue sich in erster Linie an: Wie viel verdienen wir? Generieren wir Cashflow? Ist das Geschäftsfeld seriös und nachhaltig? „Dann lässt sich das auch am Aktienkurs nachweisen.“ Aktueller Stand: 17,56 Euro, +2,72 Prozent. Funktioniert.

Anlegern gefällt die Diversifizierungsstrategie, die Beaujean forciert. Als besonders ertragreich erweist sich der Zukauf des Datinggeschäfts. Er selbst wiederholt immer wieder gern, wie „supermutig“ diese Kaufentscheidung war, mitten in der Corona-Krise (!), als Werbeeinnahmen in den Keller sausten und die allgemeine Stimmung gleich mit. „Wir haben The Meet Group nicht gekauft, weil wir Dating und Match-Making größer machen wollen“, erklärt der Mann in festen Händen, „sondern weil diese Geschäfte digital sind, weil sie einen Social-Entertainment-Charakter haben und weil die Communities zum Beispiel sehr gut zu unseren eigenen Youtubern bei Studio71 und der jungen Zielgruppe passen. Daraus ergeben sich viele Synergien.“

Mit M&A-Transaktionen kennt sich Beaujean bestens aus. Als das Kirch-Imperium zusammenkrachte und Haim Saban, der schillernde Investor aus USA, die Fernsehreste aufkratzte, leitete der damals noch blutjunge Manager aus Neuss den Finanzbereich von T-Online. Er blieb als CEO an Bord bis zur Verschmelzung mit der Deutschen Telekom im Jahr 2006. Zum Abschied schenkten ihm die Mitarbeiter des Internet-Anbieters, der zu der Zeit mit einer Marktkapitalisierung von etwa 10 Milliarden Euro der größte Wert im TecDax war, eine Sparbüchse in Form von Dagobert Duck, die seither von Job zu Job mitreist. Eigentlich ist es ein nicht gerade schmeichelhaftes Geschenk. Die reichste Ente der Welt ist berühmt für ihren extremen Geiz.

Ideen haben keine Hierarchien

Und so war das Echo geteilt, als Beaujean 14 Jahre später zu einem Townhall-Meeting in Unterföhring, wo er die Umstrukturierung der Holding und Zentralisierung zur SevenOne Entertainment Group verkündete, eben diese Sparente mit- und in seine Rede einbrachte. Die einen fanden es lustig, die anderen stöhnten, ach, wieder so einer, der auf jeden Cent schaut. Aber ist das nicht die Aufgabe eines CFOs, gerade in einem verschuldeten Unternehmen?

Die Führungskräfte bei ProSiebenSat.1 spürten den Wind der neuen Finanzpolitik am eigenen Leib. Beaujean stellte zum Beispiel die Chauffeure außer Dienst, seither muss jeder selbst fahren, vorzugsweise mit der S-Bahn zum nur vier Stationen entfernten Flughafen draußen im Erdinger Moos, so wie es der oberste Chef selbst tut. Anders als seine (übrigens ebenso fernsehfachfremden) Vorgänger Max Conze (Staubsauger) und Thomas Ebeling (Pharma) legt Beaujean mit seinem Sparkurs aber nicht den gesamten Programmideenbetrieb lahm. Im Gegenteil.

Die neue Losung ist: Ideen haben keine Hierarchien. Es gibt keine Denkverbote. In Summe kommt bisher heraus: Sieben Stunden Echtzeitdoku über den Pflegeberuf (fast) ohne Werbung! Das allererste Interview einer grünen Kanzlerkandidatin bei ProSieben! Mit „Zervakis & Opdenhövel. Live“ das erste Info-Magazin eines Erste-Liga-Senders in der Primetime! Spätestens 2023 Go-Live der neuen Nachrichtenredaktion! Die spannendsten News produziert derzeit Beaujeans Senderkette. Und während er mit tout le monde an der Medienallee 7 auf Image-Wolke sieben schwebt, muss er sich die Frage gefallen lassen, wie er all das bezahlen will. Hatten Ebeling und Conze das Segment Nachrichten nicht als schwer refinanzierbaren Kostenverursachungsfaktor angesehen?

„Ja, das kostet, aber es zahlt sich auch aus“, rechnet Rainer Beaujean vor, „wir geben jedes Jahr etwa eine Milliarde Euro für Programm aus. Gleichzeitig sind wir fokussierter in dem, was wir tun oder eben nicht mehr tun und schaffen so Potenzial für Neues im Programm.“ Eine „Green Seven“-Themenwoche etwa zum Waldsterben sei „vielleicht nicht wahnsinnig profitabel“, aber hier gehe es um etwas anderes: „Den Wert eines Programms bemessen wir auch über Reichweite und Relevanz.“

Die Kalkulation Relevanz = Reichweite = Ertrag mag momentan aufgehen. Aber was, wenn post Bundestagswahl und post Corona das Informationsbedürfnis wieder schwindet? „Wir holen nicht neue Mitarbeiter an Bord und versprechen ihnen Dinge, die wir dann nicht halten“, sagt Beaujean. Das Ziel sei, „nachhaltig und zuverlässig“ zu sein. Im Maschinenbau, wo er Erfahrungen sammelte, werde ja auch nicht ein neues Produkt nach drei Wochen von der Maschine genommen, weil es sich nicht verkauft. Abgesehen davon, es gebe genug andere Themen, die Aufmerksamkeit verdienten, Umweltschutz zum Beispiel. „Und Bewegtbild ist unserer Meinung nach genau das Medium, um die junge Zielgruppe dafür zu erreichen.“

"Ich glaube an das Medium Fernsehen"

Rainer Beaujean © ProSiebenSat.1 / Florian Bachmeier
Wie gut klappt das daheim in Meerbusch? Qua Alter gehören Beaujeans Jungs zum Zielpublikum der roten Sieben. Den jüngsten Jobwechsel ihres Vaters müssten sie eigentlich honorieren, taten sie aber zuerst nicht. „Ich hatte schon Situationen, wo mein Job besser ankam“, erzählt Beaujean frank und frei. Zum Beispiel als zum Verkaufsstart in Europa am 14. März 2002 die allererste Xbox in seinem T-Online-Büro eintraf. Aber ProSieben? Fernsehen? Das schaut doch kein Mensch, ätzte der Nachwuchs. Bis der Vater dem ältesten Sohn und seinen Freunden beim Abendessen klar machte, dass die Clips aus dem Internet, von denen sie erzählten, „von uns sind“. „Männerwelten“, das habt ihr gemacht? „Moria“ ist auch von euch? Ist ja super. Nach dieser Anekdote kauft man Rainer Beaujean sofort das Credo ab: „Ich glaube an das Medium Fernsehen.“

Aber das ist nur die eine Strategiehälfte. Inhouse, also in der Firma, reden sie davon, dass sie in einem „digitalen Ocean“ schwimmen wollen. Dass sie sich weiter konsequent in Richtung Digitalkonzern mit viel Commerce entwickeln wollen und Brücken bauen müssen zwischen linearer und digitaler Welt. Beaujeans Benchmark ist klar: „Wenn man mich fragt, was sind erfolgreiche Unternehmen in unserer Industrie, dann antworte ich: Google und Facebook. Das sind unsere eigentlichen Wettbewerber. Sie wirtschaften werbefinanziert so wie wir. Für uns ist Werbung weiterhin, ob linear oder digital, ein wesentlicher Treiber.“ Übersetzt heißt das wohl: Geld machen mit Abo-Plattformen wie Joyn hat keine Prio Eins.

Überhaupt fühlt sich Beaujean durch die Hyperaktivitäten im Streaming an den Hype am Neuen Markt anno T-Online erinnert. „Damals wurde unglaublich viel Geld ausgegeben für den Aufbau neuer Plattformen, aber über die Refinanzierung wurde nicht nachgedacht. Das scheint sich zu wiederholen.“ Die „ziemlich wichtigen Kundenakquisitionskosten“ würden nicht ausreichend bedacht. Er sei deshalb gespannt, welche der vielen neuen Angebote „unterm Strich wirtschaftlich sind und in fünf Jahren noch am Markt sind“.

Um sich gegen die US-Tekkies Google und Facebook behaupten zu können, fordert er zwar wie die anderen Medienmanager seines Kalibers „faire Wettbewerbungsbedingungen“ ein, die in weiten Bereichen nicht vorherrschten. Allerdings habe er in seinen früheren Jobs gelernt, „dass es nicht der Heilsbringer ist, nur nach Regulierung zu rufen, sondern dass es entscheidend ist, ein vernünftiges Produkt anzubieten, dass sich auf dem Markt behaupten kann“. Und um das herzustellen, muss man gemäß Beaujeans umfangreicher Fremdindustrieerfahrung nicht immer völlig allein agieren. „Es gibt auch gute Lösungen von anderen.“ Im Kranbau (Beaujean war CFO bei Demag Cranes) käme keiner auf die Idee, Schrauben selbst zu entwickeln. „Da geht man zu Herrn Würth.“

So betrachtet kann man der Idee einer europäischen Fernsehallianz, die seit geraumer Zeit aus Mailand herüberwabert, doch eine gewisse Sinnhaftigkeit abgewinnen, oder etwa nicht?

Pier Silvio Berlusconi, der Sohn des ehemaligen Premiers und Chef von Mediaset, bekräftigte erst kürzlich wieder seinen Fusionswillen. 12,38 Prozent halten die Italiener derzeit an ProSiebenSat.1 mit Aktienoption auf weitere 11,2 Prozent. Doch Rainer Beaujean gibt sich nach wie vor gelassen: „Um ein Unternehmen zu übernehmen, muss man sich erst einmal die Finanzierung leisten können.“ Das sehe er bei Mediaset nicht. Würde der Kapitalmarkt an diese Idee glauben, hätte der Aktienkurs reagiert. Hat er aber nicht. „Ich verstehe es als Kompliment von Mediaset an uns, dass sie so viel Geld in unsere Aktie stecken, denn sie könnten es ja auch in ihr eigenes Geschäftsmodell investieren.“

Sagt’s, greift auf dem Tisch vor sich zu einem Taschenrechner im Querformat und winkt damit vor der Webcam, als wolle er in Richtung Mailand die Botschaft senden: Ich hoffe, ihr habt auch so ein Gerät herumliegen, mit dem ihr vernünftig rechnen könnt. Das „Gerät“ ist ein HP 12C, ein uraltes Ding, das seinen Besitzer durchs Leben begleitet wie ein treuer Jagdhund. Es kann internen Zinsfuß, Annuitäten, Barwert, Endwert und Amortisation berechnen. Die wichtigsten finanzmathematischen Berechnungen eben. Zu Beaujeans nicht ganz ernst gemeintem Jokus wurde: Wenn der Taschenrechner mal kaputt ist, muss ich leider aufhören zu arbeiten.

So schlimm muss es nicht kommen.

Das Modell, das Hewlett-Packard seit September 1981 mit unverändertem Design und Funktionsumfang herstellt, ist im Online-Handel in der Platinum-Ausführung schon ab 59,95 Euro plus 4,95 Euro Versandgebühr zu haben. Das entspricht dem Gegenwert von etwa sieben Einzelfahrten mit der Münchner S-Bahn über fünf Zonen. Dürfte erschwinglich sein.