Muss man sich Nikolaus Blome als beleidigte Leberwurst vorstellen? Oder feiner ausgedrückt: Leidet er an der "déformation professionelle einer mitunter krawallverliebten Hauptstadtjournaille", wenn er in seinen beiden letzten Kolumnen auf "Spiegel Online" offenbart, dass ihm "die Damen und Herren bei den Koalitionsverhandlungen so langsam auf den Senkel gehen"? Das "Gehampel der Ampel", die "Verschwiegenheit der Parteichefs", das "selbstgefällig aufgeführte Versteckspiel der 22 Arbeitsgruppen" – wie tief muss der Frust bei Blome darüber sitzen, dass aus dem inner circle der To-be-or-not-to be-Koalitionäre nichts, aber auch wirklich gar nichts Substanzielles nach außen dringt, also keine einzige SMS Handy-Alarm auslöst, nicht einmal bei Blomes früherem Arbeitgeber "Bild"?

Und überhaupt: Wieso kolumniert Nikolaus Blome, seit gut einem Jahr Ressortleiter Politik und Wirtschaft bei RTL und n-tv, für den "Spiegel"? Wozu braucht er auch noch dieses Ventil?

Ventil? Da muss Nikolaus Blome, den man ja sonst eher streng und ernst sieht, kurz auflachen. Nein, er schreibe ja auch ganz viel für RTL.de und n-tv.de (ja, sogar sehr viel!). Die "Spiegel Online"-Kolumne "Jetzt erst recht(s)" sei nun mal "vorher entstanden" (was auch stimmt: Mai 2020). Er habe sie sozusagen zu RTL "mitgebracht". Und selbstverständlich schreibe er sie, beeilt er sich zu sagen, "nicht in meiner Arbeitszeit".

Die verbringt Blome hauptsächlich im Hauptstadtbüro von RTL, wohin man an diesem Mittag, wo die Ampel-Gespräche noch immer in größtmöglicher Stille abgehalten werden, kurz Einblick bekommt. Am augenfälligsten: hinter Blomes Rücken ein Foto von einem Berliner Späti, übersät mit Graffiti. Es stammt von seinem Bürovorbesitzer. Es gefiel ihm auch, also hängt es dort noch immer und bildet einen krassen Kontrast zu dem Ausblick, den er hat, wenn er sich aus dem Fenster lehnt. Dann kann Blome nämlich die Reichstagskuppel sehen. Fußläufig auch alles andere Wichtige: die Ministerien, die Parteizentralen, die Verhandlungsorte . . .

Und? Wie beleidigt ist er jetzt nun, dass nichts bis gar nichts von dort zu ihm dringt?

Blome ärgert sich über die Ampel-Verhandler

Begriffe wie "Beleidigtsein" und "Frust", nein, die will Blome "nicht akzeptieren". Es sei Ärger, und zwar in wachsendem Maße. Und dann referiert er noch einmal in Kürze, was er bei "Spiegel Online" bereits ventilierte. Dass er bei allem Respekt und prozessualen Verständnis für die Vertraulichkeit dennoch ärgerlicher werde. Und dass die Öffentlichkeit, also auch er, ab und zu schon gerne wissen würde, welche Punkte aus dem Sondierungspapier schon geklärt sind und welche nicht, "anstatt das den Leuten mit einem Rotz auf den Tisch zu knallen". Am Ende, glaubt Blome, "wird das nach hinten losgehen".

Nikolaus Blome © MG RTL D / Olaf Ballnus
Wir schauen auch mal kurz nach hinten: Beim "Spiegel" – das sei hier zum besseren Verständnis erwähnt – war Blome von 2013 bis 2015 stellvertretender Chefredakteur neben Wolfgang Büchner und Leiter des Hauptstadtbüros, was insofern eine schöne Pointe ist, als sein Vater Hermann Blome in der Bonner Republik "Spiegel"-Büroleiter in der vormaligen Hauptstadt war. Wie sein Vater – und seine Mutter auch – diskutiere und streite er sich gerne, plaudert Blome aus dem Familiennähkästchen, "nicht ideologisch, bierernst und unversöhnlich, sondern mit einem zwinkernden Auge". Das funktioniere "in manchen Fernsehformaten ganz gut". Worauf wir hier im Text später noch zu sprechen kommen.

Beim "Spiegel" hielt’s Blome jedenfalls nicht lang aus. Nach zwei Jahren (was ungefähr der dort üblichen Halbwertzeit von Spitzenkräften entspricht) wechselte er in den Springer-Kosmos zurück, aus dem er kam und für den er seit 1997 tätig war: zunächst bei "Welt", dann ab 2006 bei "Bild", wo er sich 2011 zum stellvertretenden Chefredakteur und Wirtschaftschef hocharbeitete.

Ihm sei beim Hamburger Magazin, so stand’s auch hier geschrieben, als ehemaligem "Bild"-Boy ein "rauer Wind" entgegengeweht. Ein Geheimnis darum macht Blome selbst nicht: "Das war beim Einstieg echt holprig", bestätigt er, es habe sich dann aber, zumindest aus seiner Sicht, am Standort Berlin "sehr schnell sehr gut eingespielt". Sein Einstieg bei RTL dagegen: "total freundlich, offen": "Da wurde nicht gefragt, woher kommst du und was hast du Dunkles vorher gemacht, sondern wer bist du. Das ist eine wirklich andere Atmosphäre als beim ,Spiegel‘ in der Anfangszeit."

"Das war beim Einstieg echt holprig."
Nikolaus Blome über seine erste Zeit beim "Spiegel"

Gut, es darf nicht unerwähnt bleiben, dass der gebürtige Bonner Nikolaus Blome, Jahrgang 1963, in der Kölner RTL-Zentrale auf ein vertrautes Umfeld traf: auf seine ebenso in Bonn groß gewordene frühere "Bild"-Chefin Tanit Koch (sowie ein paar andere "Bild"-Überläufer). Im März 2019 fing sie als Geschäftsführerin von n-tv sowie Chefredakteurin der neu zu schaffenden Zentralredaktion der Mediengruppe RTL Deutschland an. Blome folgte ihr im Jahr drauf.

Wie stark Tanit Kochs Zugkräfte auf ihn wirkten? Großartig ziehen musste sie offenbar nicht. Denn über sein Motiv, zu RTL und damit von Print zu TV zu wechseln, sagt Blome heute: "Ganz banal: das Fernsehen." Er wollte gerne mehr "richtiges Fernsehen" machen. Die Kombination aus Fernsehen und Buchstaben findet er nämlich "außerordentlich spannend"; sie sei die Zukunft für Websites und Fernsehsender, weil sie damit zusätzliche Reichweite generierten. RTL, n-tv, Bertelsmann – sie hätten "die Mittel, den Willen und das Ziel anzugreifen". Für ihn sei "das hier jedenfalls etwas ganz anderes, als in einem Haus zu arbeiten, das damit beschäftigt ist, den Niedergang so langsam wie möglich zu gestalten". Deal with it, "Bild", heißt das wohl, oder?

Was Blome zu RTL gezogen hat

Ja, "auch". Prinzipiell will Blome aber nicht über ehemalige Arbeitgeber sprechen. Schon gar nicht über das, was zuletzt dort so los war. Man könne aber bitteschön davon ausgehen, dass er jede einzelne Etappe seines Weges sehr gerne gemacht habe und im Rückblick keine verwerfen würde – "einzelne Ausfälle und Dramen mal ausgenommen".

Dass im RTL-Haus derweil unter Tanit Kochs Führung Ressorts einen neuen Zuschnitt bekamen und die Leitungsposten neu ausgeschrieben wurden, was zu, sagen wir, doch sehr dramatischem Unmut intern führte, kam extern, also bei Blome, als "Case" gut an. Schon aus der Ferne fand er überzeugend: die in einer Informationsoffensive mündende Angriffslust der Kölner sowie den Umbau in Richtung Ressortstruktur. "Deshalb bin ich gekommen", sagt er. Außerdem habe er mit Tanit Koch "immer blendend zusammengearbeitet".

Nun ist Tanit Koch schon lange wieder weg von RTL und Blome noch immer da. Und statt bei "Bild Live" Fernsehen aus Schlagzeilen und Handy-Alarm zu machen, macht er nun Fernsehen bei einem "echten Fernsehsender", wie er sagt. Obwohl er vorher schon Zeit vor der Kamera zubrachte (etwa beim "Bild"-Format "Die richtigen Fragen"), habe er erst bei RTL gelernt, was Fernsehen tatsächlich bedeutet: "Wie viele Gewerke ineinandergreifen müssen, bis dass ein 1’30-Beitrag bildlich, textlich und gedanklich zusammengefügt in der Hauptnachrichtensendung vor vier Millionen Menschen laufen kann, das war mir nicht klar. Mein Respekt vor Fernsehen im großen Stil ist seither exponentiell gewachsen."

Nikolaus Blome © MG RTL D / Olaf Ballnus
Nicht weniger groß dürfte für ihn der Respekt davor sein, sein Fachgebiet, Politik und Wirtschaft, auf den verschiedensten Plattformen und in den verschiedensten Formaten unterzubringen. Allein bei RTL reicht der werktägliche Spagat vom Frühstücksfernehen und "Punkt 12" über "RTL aktuell" bis zum "Nachtjournal". Sicherlich, eine Herausforderung sei das schon, aber qualitativ keine andere als für viele andere Redaktionskörper. "Das kann man schon leisten", glaubt Blome, "und mit dem Know-how, das RTL und n-tv in der gesamten Bandbreite haben, geht das auf jeden Fall." Eine "riesengroße Wundertüte" sei RTL für ihn, fährt er fort. Da sei "alles drin". Darin Politik aufzubereiten, ist für ihn "mit das Spannendste", was er machen könne.

Und genau aus dieser Wundertüte wurde im vorigen März ein in der Tat ziemlich spannendes Gespann herausgeholt, um die Kanzlerin zur Corona-Lage zu befragen.

Vis-à-vis von Merkel saßen: Nikolaus Blome, der erfahrene Politikjournalist, und Frauke Ludowig, die erfahrene Society-Expertin. Was er sich dabei gedacht hat? Geehrt habe er sich gefühlt, als er gefragt wurde, da mitzumachen, antwortet Blome brav, "weil es auf eine sehr gute Art und Weise abbildet, was RTL ist, RTL kann und RTL sein will: nämlich die ganze Bandbreite von journalistischem Fernsehen." Das Kanzlerin-Interview sei sogar "prototypisch" gewesen, weil es eine "gute Mischung" herstellte aus politischen Themen und deren emotionalen Aspekten, die viele Leute angehen.

Merkel-Interview mit Frauke Ludowig

Sein Politik-Begriff scheint da weiter zu greifen als bei Meistern der reinen Lehre, die kein Problem damit hätten, sich mit Merkel 15 Stunden lang über die Feinheiten des europäischen Sicherheitsmechanismus zu unterhalten. Blome findet: Was eine hinreichend große Zahl von Leuten angeht, ist allein deshalb Politik. Ergo: Wenn seine Ko-Interviewerin im Laufe eines 15-Minuten-Interviews die Kanzlerin fragt, wie sie unter Corona-Bedingungen frisiert wird, dann sei deren Antwort nun mal "für sehr viele interessant zu hören".

Politik nicht nur für Politik-Nerds verstehbar zu machen, sondern auch für jene Menschen, die von den Beschlüssen betroffen sind, sich aber nicht den ganzen Tag damit beschäftigen, weil sie andere Dinge zu tun haben – das ist Nikolaus Blome ein Anliegen. Dafür steigt er sogar einmal die Woche in ein Auto und kutschiert Jakob Augstein durch Berlin.

"Gegenverkehr" nennt sich diese Rubrik im "Nachtjournal", und man muss sie sich vorstellen wie James Cordens berühmte Clips "Carpool Karaoke" in der "Late Late Show" auf CBS. Nur ohne Karaoke. Wäre ja noch schöner, wenn Augstein und Blome ihr politisches Streitgespräch auch noch singen würden!?

Blome und Augstein machen auf James Corden

In der aktuellen Folge streiten sich Augstein und Blome über, was sonst, Corona bzw. über die Frage, wie viel Panikmache (Augstein) oder berechtigte Panik (Blome) mit Blick auf den Winter im Spiel ist. Einmal mehr reiht sich Blome in das Team knallharte staatliche Vorsicht ein, während Augstein dazwischenruft "aber die Eigenverantwortung der Bürger!". Auch über einen möglichen Friedensnobelpreis für Merkel haben die beiden schon gestritten oder über die steigenden Energiepreise, und immer endet ihr Schlagabtausch nach ungefähr 3’40 damit, dass einer mehr oder weniger, tja, irgendwie beleidigt aus dem Wagen steigt.

Was da gespielt ist und ob womöglich für die Pointe eigene Positionen aufgegeben werden, will man von Blome wissen. "Letzteres: eindeutig nein. Da wird nichts gesagt, was derjenige nicht auch so meint." Die Kunst bestehe darin, aus einem Thema wie Corona einen Aspekt herauszugreifen, "der in drei bis vier Minuten gut verhandelbar ist und bei dem wir unterschiedlicher Meinung sind."

Wenn man so will, ist "Gegenverkehr" der Spin-off der wöchentlichen Diskussionssendung "Augstein und Blome", die fast zehn Jahre auf Phoenix lief und den Dissens zwischen einem konservativen Knochen (Blome) und einem linken Freigeist (Augstein) so überzeugend in Szene setzte wie weiland Kienzle & Hauser im ZDF. Anders als beim "Spiegel" nahmen sie es beim öffentlich-rechtlichen Ereigniskanal nicht gelassen, dass Blome zur privaten Nachrichtenkonkurrenz wechselte. Ihm zufolge sei es "ein verständlicher Wunsch" von Phoenix gewesen, die Sache im August 2020 zu beenden.

So ganz krumm nahm ihm den Wechsel die Phoenix-Crew allerdings nicht. Zum Abschied schenkten sie ihm ein Riesenfoto vom "Augstein und Blome"-Set, auf dem alle ihre Unterschriften verewigten. Es hängt jetzt, neben den Späti-Graffiti, in Blomes RTL-Büro.