Als Golineh Atai sich das erste Mal auf den Weg nach Kairo machte, absolvierte sie pflichtgemäß einen Krisen-Kurs bei der Bundeswehr in Hammelburg. Sie ließ sich von vermeintlichen Terroristen psychologisch unter Druck setzen, lernte die Unterschiede von Sprengsätzen und nahm mit ihren zarten 1,60 Meter einen Kerl huckepack, um die Rettung ihres Kameramanns aus vermintem Gelände zu simulieren. Was man halt so braucht als Auslandskorrespondentin im Kriegs- und Kriseneinsatz.

Fünfzehn Jahre später ist Atai, inzwischen hochgradig auslandserfahren und hochdekoriert mit Journalistenpreisen, damit beschäftigt, dieses Wissen aufzufrischen. Sie muss. Denn in wenigen Tagen kehrt sie nach Kairo zurück. Allerdings nicht wie 2006 im Auftrag des SWR, der sich in der Zehn-Millionen-Metropole am Nil mit dem WDR die Federführung für das ARD-Studio teilt. Zum 1. Januar übernimmt Atai die Leitung des ZDF-Pendants.

Das ZDF hat da einen sehr guten Fang gemacht, keine Frage. Nur warum konnte die ARD eine ihrer besten Kräfte nicht halten? Und was sagt Atais Senderwechsel eigentlich über den Status quo der öffentlich-rechtlichen Auslandsberichterstattung aus, speziell in der ARD?

Zunächst einmal bedeutet ein neuer Job immer: neue Strukturen, neue Teams, neue Arbeitsabläufe, neue Gesichter, neue Räumlichkeiten – und leichte Überforderung. Wieso sollte es Golineh Atai anders ergehen? Leicht zerstreut wirkt sie jedenfalls an diesem frühen Donnerstagmorgen, als sie sich aus einem Büro vom Mainzer Lerchenberg zuschaltet. Oder liegt es vielleicht daran, dass sie am Vorabend ihren Geburtstag gefeiert hat?

Die Technik für unsere Schalte musste sich die jetzt 47-Jährige zuvor im Haus zusammensuchen. Sie ist ja noch nicht lang in Mainz und quasi schon auf dem Sprung nach Nahost. Nächste Woche soll die Studio-Übergabe vollzogen werden. Ulli Gack, die vergangenen fünf Jahre Chef in Kairo, übernimmt dann in der ZDF-Zentrale neue Aufgaben, während Golineh Atai es fortan mit einem Berichtsgebiet zu tun hat, das vom Maghreb über den Tschad und die Arabische Halbinsel bis zu den Hotspots Syrien und Irak reicht.

Die letzten Tage vor der Abreise nutzt sie noch, um herauszufinden, was ja nicht unwesentlich für ihre Arbeit in den kommenden Jahren sein wird: Wie funktioniert die Hierarchie im ZDF? Wer ist mein erster, wer vielleicht mein zweiter Ansprechpartner? Wo reiche ich welche Ideen ein? „Ich lerne jeden Tag dazu“, lacht sie. Ihr erstes Learning: Vieles sei beim ZDF durch die Zentralität und das Denken in bundesweiten Zusammenhängen „einfacher“, Entscheidungen fielen „schneller und unkomplizierter“. Da sei die ARD doch mehr „form-heavy“ gewesen: „Ich musste regional und bundesweit zugleich erfassen. Und im Ausland hatte ich vergleichsweise wenige Berührungspunkte mit dem Mutterhaus, also der jeweiligen Landesrundfunkanstalt, während beim ZDF der fast tägliche Kontakt mit Mainz vom Ausland aus per se gegeben ist.“

Trotz dieser deutlich komplizierteren Strukturen in der ARD hat es Golineh Atai zu einer bisher stattlichen Karriere gebracht. So war sie, deren Eltern 1980 vor den Mullahs aus Iran nach Hoffenheim flohen, nach dem Volontariat im SWR die erste deutsche Fernsehjournalistin, die nicht in Deutschland geboren wurde und ins Ausland geschickt wurde. Der zweijährigen Station in Kairo folgte 2013 die sehr intensive Korrespondentenzeit in Moskau bis 2018. Sie war dominiert von der so genannten Ukraine-„Krise“, die de facto ein nicht enden wollender Krieg ist, was das aktuelle russische Säbelrasseln an der ukrainischen Grenze wieder sehr deutlich vor Augen führt.

Ihre Berichte und Analysen vom Maidan-Platz in Kiew seien „vorbildlich in ihrer sichtbaren Suche nach dem vollständigen Bild und glaubwürdig im offenen Eingeständnis, dieses Bild im Nebel der Ereignisse nicht liefern zu können“, lobte die Jury des „medium magazins“, die Golineh Atai zur „Journalistin des Jahres 2014“ wählte. Im selben Jahr erhielt sie den Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis. Und sah sich erstmals einer Debatte ausgesetzt, deren Folgen noch heute zu spüren sind.

Nicht nur, dass der ARD-Programmbeirat eine eigentlich vertrauliche scharfe Rüge an der Ukraine-Berichterstattung aussprach („nicht ausreichend differenziert“). Erstmals kamen Golineh Atai und praktisch alle anderen Russland-Berichterstatter, ob in TV oder Print, mit einer „Parallelrealität“ in Berührung, mit Verschwörungslegenden, staatlich konstruierten Narrativen und regelrechten „Informationskriegen“.

„Ich saß im ARD-,Presseclub nachgefragt‘ und wurde von deutschen Zuschauerinnen und Zuschauern mit genau der gleichen Argumentationslogik des russischen Staatsfernsehens konfrontiert“, erinnert sich Atai. Noch heute frage sie sich, woher diese Leute kamen, woher sie ihre Thesen hatten. „Es war der erste Ausbruch einer Vertrauenskrise in den öffentlich-rechtlichen Medien, der uns deutlich machte, dass wir unsere Gatekeeper-Funktion verloren hatten. Und dass wir uns mit vielen Konkurrenten auf einem Markt bewegen, ob das obskure Telegram-Gruppen sind oder Staatssender, die mit einem ganz anderen Auftrag Journalismus machen.“

Sie selbst wuchs in einer Familie auf, die mit dem Thema Propaganda früh konfrontiert war. Als 1979 in Iran die Klerikal-Diktatur ausgerufen wurde, ging ihre Mutter auf die Straße, um gegen den Kopftuchzwang zu demonstrieren, und das Ohr des Vaters hing am Kurzwellengerät, dem Programm der BBC oder von Voice of America auf Persisch, auch noch im sicheren deutschen Exil. In der Familie wurde viel diskutiert, politisiert, hinterfragt. Wie funktioniert Propaganda? Was ist die Rolle eines Reporters? Wie objektiv kann er sein? „Meine Eltern beschäftigten sich sehr damit, wie die westlichen Medien über den Iran berichten. Das hat mich natürlich geprägt.“

Und so hörte sie 2009, als sie selbst schon Auslandsreporterin war, mit großem Interesse eine BBC-Sendung, in der ehemalige Iran-Korrespondenten eingestanden, über die Revolution und ihre Führer ein allzu weichgezeichnetes Bild verbreitet zu haben. Die BBC war und ist nichtsdestotrotz, wenn auch mit Einschränkungen ihre „Auslands-Orientierungsmarke“, sagt Atai, „die Briten belegen meiner Meinung nach erzählerisch immer noch den Spitzenplatz.“

Was ihr Geburtsland betrifft, das übrigens nicht zu ihrem Berichtsraum als Kairo-Korrespondentin gehört (zuständig ist sowohl bei der ARD als auch beim ZDF das jeweilige Studio in Istanbul), sind Atais Antennen besonders sensibilisiert. Selbst wieder hinfahren, die dort noch lebenden Großeltern besuchen, das wagt sie nicht, auch wenn sie seit ihrem 23. Lebensjahr (ja, so unfassbar lang hat es gedauert) die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt. Die Kontakte dorthin sind freilich eng. Aus der Distanz hat sie gerade ein Buch über Frauen in Iran herausgebracht, mit dem sie durch Deutschland tourte (zum Beispiel im NDR-Fernsehen).

Sinnsuche quer durch Europa und die USA

Wer sich auch gefragt hat, warum Golineh Atai im vergangenen Jahr komplett vom Bildschirm verschwunden war, findet in diesem Buch die Erklärung. Sie nahm sich dafür nach 21 Berufsjahren, davon die letzten drei in den Redaktionen von „Monitor“ und „Tagesschau“, ein Sabbatical. Auch mit dem Ziel: nachdenken. Was will ich? Wo will ich hin? Auf dieser Sinnsuche quer durch Europa und die USA wurde ihr klar, dass ihr nächster Weg sie unbedingt wieder ins Ausland führen muss, und zwar in eine Region, die sie immer noch so sehr fasziniert, dass sie an Vorheriges anknüpfen will: „Ich möchte die Geschichten von Menschen erzählen, die existenziellen Kämpfen ausgesetzt sind – und dabei ein stückweit die Zuschauerinnen und Zuschauer aufrütteln.“

Auslandsberichterstattung ist das Fenster zur Welt, heißt es immer so schön. Doch genau dieses Fenster geht, schaut man ins öffentlich-rechtliche Programm, immer weiter zu. Viele Sendeplätze für Auslandsreportagen sind weggefallen. Sendungen wie „Weltweit“ im WDR-Dritten zum Beispiel konnte Atai früher nutzen, um ausführlicher über Land und Leute zu berichten, anstatt nur politische Zusammenhänge schnell, schnell in 120 oder 90 Sekunden in die „Tagesschau“ zu pressen. Oder jeden Morgen 15 Minuten live im „Morgenmagazin“ aus einem Wohnzimmer oder Weinkeller im Libanon berichten? Heute unvorstellbar.

Sie ist nicht die einzige Auslandskorrespondentin, die bezweifelt, dass es hilfreich ist, wenn solche Formate fehlen, die das Leben der Menschen beleuchten oder strategische Zusammenhänge erklären. „Uns fehlt dann auch die Weitsicht für eine kluge Politik.“

Wenn wir uns nicht mit der Welt beschäftigen, dann beschäftigt sich die Welt mit uns – das hat Golineh Atai schon oft gesagt, und nie war es richtiger und dringlicher als heute, zumal in einem Land wie Deutschland, das außenwirtschaftlich extrem verflochten ist. Denn was wissen wir eigentlich über den Klimawandel in Nahost? Wissen wir, wie dramatisch die Lage dort ist? Dass Menschen vor Dürre fliehen? „Wir müssen es wissen!“, sagt Atai, „damit wir uns hier im Westen darauf vorbereiten und vor Ort einbringen können. Und der erste Schritt ist, genügend Informationen über diese Menschen und Entwicklungen zu bekommen.“

Und das wird nun die nächsten drei, vielleicht fünf Jahre Golineh Atais Auftrag sein. Ihre Rolle und die ihrer Kolleginnen und Kollegen sieht sie als eine Art Thermometer, das Entwicklungen erfühlt. Und sie hofft, dass sie in Kairo als frühzeitiger Temperaturmesser mehr in Anspruch genommen wird, als es in der Vergangenheit der Fall war.

Gut gerüstet ist sie ja schon (das Krisen-Seminar!), aber weiß sie schon, was auf sie zukommt? Auf jeden Fall schon mal eine sehr veränderte Stadt, sagt Atai. Auch weil einige Freunde nicht mehr da sein werden. Sie sind in Berlin oder woanders im Exil. Die einst mit dem Arabischen Frühling verknüpften Hoffnungen sind zerstoben. Schon zuvor, 2006, 2008, als sie ARD-Korrespondentin war, „musste man um jedes Bild kämpfen“. Als sie über die weltweite Getreidekrise berichten wollte, durften ihr Team und sie nicht einmal eine Brotschlange filmen, sonst wären sie mit einem Bein auf der Polizeiwache gelandet. Geht doch ans Rote Meer, dreht dort die schönen Seiten, sagte man ihr.

„Ich denke, ich werde diesmal noch viel mehr Aufwand für eine Drehgenehmigung betreiben müssen“, sagt Atai. Und dass sie einen „sehr langen Atem“ und eine „hohe Frustrationstoleranz“ brauchen werde. Die erste Dienstreise ist noch in diesem alten Jahr avisiert. Sehr wahrscheinlich geht es nach Libyen. Eine Reise in die Golf-Staaten soll in einer zweiteiligen Doku münden.

Ende 2022 warten dann Großereignisse auf Golineh Atai, die Weltklimakonferenz in Kairo, die WM in Katar. Alles Gelegenheiten, um das Fenster zur Welt weit aufzustoßen.

Ein „Inschallah“, dass sie es auch tatsächlich schafft.