Nein, es war wirklich nicht nett, was Christian Lindner neulich in der „Süddeutschen Zeitung“ von sich gab, jedenfalls aus Sicht von RTL. Zur inhaltlichen Qualität der Öffentlich-Rechtlichen befragt, antwortete der Bundesfinanzminister und Ehemann einer vormaligen RTL-Journalistin in der Rolle des Medienpolitikers, der er nicht ist: „Es gibt Qualitätsführer.“ Er persönlich sehe das „heute-journal“ im ZDF als „Flaggschiff“, von der journalistischen Qualität über die Grafik bis zur Exklusivität der Gespräche. Die Privaten hätten „nichts Vergleichbares“. Und dann setzte Lindner noch diesen drauf: Dass das frühere RTL-„Nachtjournal“ mit Heiner Bremer „keinen Nachfolger bekommen“ habe.

Wie kann das sein? Heiner Bremer ist seit 2004 fort von RTL. Hat der Minister all die Anstrengungen des Senders seither übersehen? Pinar Atalay arbeitet doch jetzt für die RTL-News!

Im Mai 2021 verließ die „Tagesthemen“-Moderatorin die ARD, um bei RTL neu zu starten. Ihre in sieben Jahren auf bundesweiter Nachrichtenbühne aufgebaute Bekanntheit nahm sie dorthin mit. Für die Privatfernsehmacher in Köln war es der perfekte Marketingcoup, um der laufenden Informationsoffensive Gewicht zu geben. Das Pendant zu „heute-journal“ und „Tagesthemen“, das neue „RTL direkt“, das moderiert sie, im Wechsel mit Jan Hofer.

Pinar Atalay © RTL / Pascal Bünning
Vor fast exakt einem Jahr, am 4. Oktober 2021, gab Pinar Atalay ihren Einstand beim neuen Nachrichtenflaggschiff, dem ihr früherer ARD-Kollege ein paar Wochen zuvor den Startschubs gegeben hatte. Auf der einen Seite Jan Hofer, die über Jahrzehnte gewachsene Sprecherinstitution der „Tagesschau“, geübt im Ablesen von Meldungen, aber nicht unbedingt in der Moderation. Auf der anderen Seite Pinar Atalay, die Selbstverfasserin ihrer Moderationstexte, die nichts mehr ärgert, als wenn man sie zur „Nachrichtensprecherin“ degradiert. Also diese beiden Big Names der öffentlich-rechtlichen News als gleichwertige Gesichter von „RTL direkt“ einzusetzen, das ist schon eine Aha-Konstellation.

Eine Woche Spätdienst bei eben diesem „RTL direkt“ steht an, als sich Pinar Atalay vor der 15-Uhr-Konferenz Zeit nimmt, um Bilanz ziehen.

Dass sie die von vielen (außer Christian Lindner) als Krone des Fernsehjournalismus geschätzten „Tagesthemen“ verließ, überraschte. Sie selbst war auch überrascht, als über ihr Management das Angebot der RTL-Geschäftsführung reinkam, namentlich von Stephan Schäfer und Stephan Schmitter. Denn einen neuen Job suchte sie aktiv nicht. „Mit dem Standing, das ich mir unter anderem bei den ,Tagesthemen‘ aufgebaut hatte, war alles gut, aber ich war neugierig“, sagt Atalay und ergänzt: „Meine Biografie zeigt: Ich bin kein Urgestein des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.“

Angesichts der erst 44 Lebensjahre, die sie in diesem April erreichte, wäre „Urgestein“ ja auch ziemlich unpassend.

Im Privatfunk wurde die Tochter eines Tischlers und einer Schneiderin aus der Türkei groß. Mit 19 schon fing sie bei Radio Lippe an und war dann die „Hallo-Wach“-Frau in der Frühschiene von Antenne Münster, bevor sie mutig kündigte, um für den NDR frei zu arbeiten. Als Inlandskorrespondentin in Norddeutschland verdiente sie sich ihre Sporen, moderierte später die Hauptnachrichten im NDR-Dritten, „Cosmo TV“ für den WDR und für Hardcore-Politikfans die „Phoenix Runde“ im Ereigniskanal von ARD und ZDF.

Also, sagt Pinar Atalay, sie habe in der ARD „15 gute Jahre“ verbracht. Und möchte zugleich betont wissen: Mit dem Wechsel zu RTL sei sie geblieben, was sie ist: politische Journalistin und Nachrichten-Moderatorin. „Ich bin jetzt Erste Journalistin RTL. Es hätte schlechter laufen können.“

Wie wahr, wenn man die Voraussetzungen bedenkt. Eine Fernsehkarriere war ja nicht unbedingt absehbar, so als Gastarbeiterkind aus dem Plattenbau in Extertal-Bösingfeld und ehemalige Boutiquenbesitzerin.

Vom Lokalradio zum Vorzeigegesicht von RTL – tja, wie hat Pinar Atalay das bloß geschafft?

Weil sie genau das schon so oft gefragt wurde, haute sie in die Tastatur. Im vorigen Herbst erschien „Schwimmen muss man selbst“, eine Art Autobiografie, die sie mit Interviewpassagen spickte, in denen Persönlichkeiten von Rang (wie First Lady Elke Büdenbender) und Namen (wie die Schauspielerin Sibel Kekilli) von ihrem Aufstieg aus ähnlich unprivilegiertem Milieu erzählen. Der Buchtitel ist ein Zitat von Atalays frühem Förderer und NDR-Chefredakteur Andreas Cichowicz. Von ihm holt sie sich im Gespräch fürs Buch die dicksten Lorbeeren ab („Du bist eine Identifikationsfigur!“). Über ihn gelang ihr wichtigster, vermeintlich endgültiger Karriereschritt.

In welcher Situation Pinar Atalay im Oktober 2013 der Ruf zu den „Tagesthemen“ ereilte, beschreibt sie im Buch wie folgt:

Pinar Atalay © RTL / Pascal Bünning
Die Bundeszentrale für Politische Bildung hatte zur Journalistenreise nach Israel eingeladen. Zehn Tage straffes Programm lagen auch vor Pinar Atalay. Im Zug nach Frankfurt zum Flieger klingelte das Telefon. Absender „Anonym“. Die Funkverbindung miserabel, nur ein Balken Empfang. Aber die wichtige, heiß ersehnte Botschaft von Thomas Hinrichs, dem damaligen Zweiten Chefredakteur ARD aktuell, der sie ein paar Wochen zuvor beim intensiven „Grill-die-Pinar“-Bewerbungsgespräch über die anstehende Bundestagswahl, den Syrien-Konflikt und den FC Bayern inhaltlich auseinandergenommen hatte, kam trotz abgehackten Telefonats an: Sie würde künftig am „Tagesthemen“-Pult stehen.

Wow!

Fand auch die Reisegruppe, die zu den ersten Gratulanten zählte. Mitreisende erinnern sich an die „Tagesthemen“- Moderatorin in spe als „ganz liebe, bescheidene Kollegin ohne Star-Attitüde“, die sich nicht groß beklagte, als ihr in Tel Aviv eine ungeschickte Nachwuchskraft beim Frisieren mit dem Lockenstab ein Ohr verbrannte. Aber auch das sei sie: Eine „ausgesprochene Kämpferin“, die früh gelernt habe, nach links und rechts zu schauen in dem Sinne, wie wirke ich, wie komme ich an, was muss ich tun, worauf muss ich aufpassen?

Wer in einem visuellen Medium Karriere macht, ist immer klug beraten, auf sein Äußeres und die Außenwirkung sorgsam zu achten. Gerade bei der „schönen Brünetten“ („Bild“) wurde sehr genau hingeschaut und ein Merkmal besonders hervorgehoben.

Fast kein Interview, kein Zeitungsbericht erschien ohne den Hinweis auf ihre türkische Herkunft, ihren so genannten Migrationshintergrund. Dieser Punkt schien der wichtigste zu sein, wenn es um die Moderation der „Tagesthemen“ ging, was Pinar Atalay in dieser Massivität überraschte. Sie war schließlich in Deutschland geboren, besaß den deutschen Pass und arbeitete schon „seit einer gefühlten Ewigkeit“ für Rundfunk und Fernsehen.

„Ich habe mich immer als natürlichen Teil der Gesellschaft gesehen. Nie aus einer Opferperspektive auf die Welt geblickt. Und nie aus der Sicht einer Minderheit“, schreibt Atalay über sich. Trotzdem habe sie den Impuls der Kollegen verstehen können, „denn es war ungewöhnlich, dass eine Frau wie ich es zu einer der bekanntesten Nachrichtenmoderatorinnen des Landes brachte“.

Flöht man die Schlagzeilen zu ihrem RTL-Wechsel, fehlt diesmal das Label „Moderatorin mit Migrationshintergrund“ weitgehend. Für Pinar Atalay (seit Donnerstag übrigens frisch gebackene German Diversity Award-Gewinnerin) ist das ein gutes Zeichen. Ein Zeichen für Normalität, die ihr wichtig ist, auch wenn sie ihre Herkunft nicht verleugnen wolle. „Ich sitze auf beiden Stühlen, nicht auf einem“, sagt sie. Bei RTL hätten sie viele Zuschauerinnen und Zuschauer mit einer Migrationsgeschichte. „Sie können sich mit mir identifizieren: Die hat einen Weg eingelegt, den ich auch gehen könnte.“

Nur warum führte dieser Weg zu RTL?

Bei der ARD hatte sie es ja nicht schlecht. Ein Fast-Beamtenstatus schien ihr sicher. Gleichbleibend gut lieferte sie ab. Machte an keiner Stelle grobe Fehler. Sammelte 2018 Beachtung ein für das Exklusiv-Interview mit dem türkischen Ministerpräsidenten Yildirim, das sie als „Puzzleteil in der Freilassung des Journalisten Deniz Yücel“ betrachtet. Fiel auch mal aus der seriösen News-Lady-Rolle heraus, als sie mit dem „Tagesschau“-Kollegen Thorsten Schröder eine Karaoke-Nummer fürs Internet schob (gar nicht mal so schlecht).

Und doch sah sie offenbar für sich keine Chance, einmal so was wie den Status eines Hanns Joachim Friedrichs oder Ulrich Wickert zu erreichen. Oder war es andersrum? Was die Herren von RTL ihr anboten, war jedenfalls mehr, als man ihr bei der ARD zutraute.

Vielfalt, Entfaltungsmöglichkeit und das Triell

Gleich mit der Moderation eines Triells an der Seite von RTL-Urgestein (hier passt es!) Peter Kloeppel zu starten, also dieses neuartigen Triple-Wumms der Kanzlerkandidierendenbefragung (heißt wohl so korrekt, oder?) – da habe RTL gewusst, wie man sie kriegen könne, sagt Atalay. Bei der ARD sah sie die Möglichkeit nicht, so klar aufgeteilt und über die Jahre gewachsen ist, wer dieses Top-TV-Event vor Bundestagswahlen moderieren darf.

Und RTL bot ihr noch mehr, Vielfalt und Entfaltungsmöglichkeit. So präsentiert sie neben den täglichen Nachrichtensendungen „RTL direkt“ und „RTL aktuell“ auch Sonderformate wie den Bürger-Talk „Am Tisch mit Olaf Scholz“, den sie mit entwickeln durfte. Auch mal eine halbe Stunde am Stück Karl Lauterbach befragen in einem „RTL direkt“-Spezial war schon drin. Und die Kölner lassen sie immer wieder raus aus dem Studio. Im Juni flog sie zum Beispiel als „Anchor on location“ im Heli zum G7 nach Elmau und hatte Glück, dass sie nicht wie der arme Christian Sievers vom „heute-journal“ die Live-Sendung vor Ort wegen Unwetters abbrechen musste. Mitte November steht das G20-Treffen auf Bali an. Das Ticket über den Indischen Ozean hat sich Pinar Atalay schon gesichert.

Olaf Scholz und Pinar Atalay © RTL / Andreas Friese Pinar Atalay und Kanzler Olaf Scholz. Der SPD-Politiker besuchte die Journalistin auch nach seiner Wahl - hier im Berliner "RTL Direkt"-Studio.

Auf die Unterschiede in der Nachrichtenvermittlung angesprochen, hat die frühere „Tagesthemen“-Frontfrau schon in diversen Interviews mitgeteilt, dass sie, was Themenfindung und Relevanz der Themen betrifft, keine sieht zwischen den unterschiedlichen Nachrichtensendungen bei ARD und RTL. „Nachrichten bleiben im Kern, was sie sind, nämlich Nachrichten.“

Dass ein paar Dinge doch anders laufen, das sieht sie aber schon.

Mit 20 Minuten Sendezeit ist „RTL direkt“ kürzer als „heute-journal“ und „Tagesthemen“, oft service-orientierter und manchmal Brücke zum Fußball oder zum „Dschungelcamp“. Pinar Atalay stört das alles nicht, im Gegenteil: Dank der Kürze und dank des Umstands, dass die RTL-Spätnachrichten, anders als etwa die „Tagesthemen“, Reporterinnen und Reporter direkt in der Redaktion haben, um bundesweit drehen und schalten zu können, „kommen wir schneller und dynamischer bei unserem Kernpublikum an“. Vom unbestrittenen Standortvorteil ganz zu schweigen.

Das „RTL direkt“-Studio befindet sich in der Hauptstadt, wohin Atalay mit Mann und Kind umgezogen ist. Ob Ministerinnen, der Kanzler oder Experten: „Wir haben sie alle leibhaftig im Studio stehen. Dadurch entstehen lebendigere Gespräche, als wenn man nur schaltet.“ So könne sie schon im Vorfeld die Stimmung ihres Gegenübers abchecken oder leichter unterbrechen, was sie gerne tue. Einschließlich des Bundesfinanzministers.

Jetzt mal Butter bei die Fische, Frau Atalay, wie kann es sein, dass Christian Lindner all diese Mühe übersehen hat?

„Übersehen hat er uns nicht, schließlich ist er häufig Gast bei ,RTL direkt‘“, sagt sie. Von ihm und auch vielen anderen Politikerinnen und Politikern höre sie immer wieder, dass sie sehr froh sind, „dass RTL mit guten, seriösen Sendungen am Start ist, gerade in diesen Zeiten“. Nicht zuletzt wollten auch sie das junge Publikum erreichen.

Die Marktanteile geben Pinar Atalay Recht. Obwohl noch relativ frisch auf dem Bildschirm, hat „RTL direkt“ im ersten Jahr bei den 14- bis 49-Jährigen mit 9,6 Prozent die Marktführung übernommen, vor „heute-journal“ (9,5 Prozent) und „Tagesthemen“ (8,2 Prozent). Diesen Erfolg will sie, natürlich, weiter tatkräftig ausbauen.

Dass von den beiden Stephans, die mit ihr das Einstellungsgespräch führten, inzwischen nur noch einer, Stephan Schmitter als Geschäftsführer von RTL NEWS, an Bord ist, hat „erhebliche Veränderungen im Medienhaus“ mit sich gebracht, doch nicht für Pinar Atalay, wie sie betont. Sie freut sich viel mehr, die gesamte Power, die in ihrem neuen Arbeitgeber ohnehin schon steckte und die etwa mit Neuzugängen wie Gregor Peter Schmitz („Stern“) und Nico Fried (Ex-„SZ“) aufgestockt wurde, nutzen zu können. „Je mehr Leute, desto besser.“

Für sie gibt es also überhaupt kein Vertun, dass es RTL ernst meint mit der Info-Offensive. Da passt der Slogan ihres Senders doch wunderbar: Willkommen zuhause, Pinar Atalay.

*Korrektur-Hinweis: Zunächst stand an dieser Stelle, dass Pinar Atalay 2018 den türkischen Präsidenten Erdogan für die "Tagesthemen" interviewt hätte. Es war der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim.