Nur noch 29 Mal schlafen, dann ist Anstoß in Katar. Dann beginnt, was die einen als großes Fußballfest ersehnen und die anderen als „WM der Schande“ verdammen. ARD und ZDF werden mit den Ex-Weltmeistern „Schweini“ und Mertesacker als Experten anreisen und doch nur eingebremste Übertragungspower auffahren. Denn die Rechte an allen 64 Spielen der Winter-WM im Wüstenstaat hat sich bekanntlich Magenta TV gesichert, das Fernsehangebot der Deutschen Telekom. Und was macht das relativ neue BILD TV mit einer der stärksten Sportredaktionen im Rücken?

Bringt Marcel Reif in Position.

Alle zwei Tage wird sich der „Grandseigneur des Sportjournalismus“, wie ihn die „Bild“-Zeitung betitelt, mit Sportchefredakteur Matthias Brügelmann morgens um sieben im Studio in Berlin für eine einstündige Sendung zusammensetzen, sozusagen für ein „Reif ist live“-Spezial, also das von beiden seit Februar 2020 aufgeführte Pas de deux über Fußballthemen. An den anderen WM-Tagen ist die „Fußball-Ikone“ (wieder „Bild“-Poesie) Lothar Matthäus dran.

„Grandseigneur“, was für ein Etikett! Aber damit hat „Bild“ so was von recht. In fast vier Jahrzehnten erwarb sich Marcel Reif tatsächlich All-Star-Status im Sportfernsehen. Wenn er in seinen besten Zeiten Fußball kommentierte, war das große Oper mit Anzug und Krawatte. Da war ein Feingeist am Mikrofon, der den Fußball anders las und anders bewertete. Pointiert, abweichend von der üblichen Reportersprache, intelligenter daherkommend als die anderen.

Und so einer landet bei „Bild“? Wo der Hammer öfter zum Einsatz kommt als das Florett? Wie konnte das passieren?

Marcel Reif © Imago / Teutopress
Nur noch sechs Stunden, dann ist Anstoß in Pilsen. Vier zu zwei für die Bayern wird diese Champions-League-Partie enden, von deren (aus bayerischer Sicht) erfreulichem Ausgang Marcel Reif an jenem Mittwochnachmittag noch nichts wissen kann. Bevor er für die Swisscom-Tochter Blue, seiner zweiten Spielfläche neben „Bild“, zum Experteneinsatz ins Studio eilen muss, stellt er sich der Ursachenforschung. Ganz entspannt und wie ein englischer Lord gekleidet sitzt er da auf der anderen Seite des Bildschirms daheim in Zürich, wo er hauptsächlich lebt. Durch die Welt jetten, in Stadien frieren, das ist vorbei. Hat er lang genug gehabt.

Der „Grandseigneur“, ja, der gefällt ihm. Sehr. Niemand und am wenigsten er selbst würde abstreiten, dass er der Bauchpinselei überaus zugetan ist. Dass er sich durchaus gut findet. Und so kokettiert Marcel Reif im Laufe des Gesprächs immer wieder mit seiner Eitel- und Unfehlbarkeit, was ihn aber auch irgendwie sympathisch macht. Denn es ist ja nicht so, als hätte er als Kommentator und Experte nichts Großartiges geleistet.

Nehmen wir die Sache mit dem Tor.

1. April 1998, Champions-League-Halbfinale Madrid gegen Dortmund. RTL überträgt. Ein Tor fällt um, es kann nicht gespielt werden. Den Aprilscherz, der nicht beabsichtigt war, bereden RTL-Chefkommentator Reif („Noch nie hätte ein Tor einem Spiel so gut getan wie heute“) und Moderator Günther Jauch 76 Minuten lang auf so launig-spritzige Art, dass sie dafür den Bayerischen Fernsehpreis bekommen werden.

Unerträglich!, aus Reifs Sicht. Wenn man wüsste, wie beleidigt und wütend und indigniert er damals war. Fünf Jahre am Stück hatte ihn „Sport Bild“ als Besten Kommentator ausgezeichnet. Und dann erhält im Prinzregentheater in dieser Disziplin „irgendeine Bratwurst“ den Fernsehpreis und er bloß den Panther für die Beste humoristische Leistung. „Ich bin doch nicht euer Kasperl! Ich mache kein Unterhaltungsfernsehen“, echauffiert sich der Preisträger noch im Nachhinein. Er wollte für seinen Beruf gewürdigt werden und nicht für eine Clownerie, „auch wenn sie offenbar richtig gut gelungen war“.

Und wenn man ihn schon nach Höhepunkten in seiner Karriere frage, was er sich eigentlich zu beantworten abgewöhnt habe, denn das beste Spiel kommt noch: „Das war meine Leistung, als Herr Jauch mit seinem Käffchen abzog und das Spiel endlich begann. Es war kalt, es ging auf Mitternacht, es guckte nur noch die Hälfte der Fangemeinde zu, aber ich hielt es nicht für unter meiner Würde, das schwache Spiel mit voller Kraft zu kommentieren. Diese Attitüde hatte ich nie.“

Sagt der Wortartist am Ball, dem das Verbaldribbling in deutscher Sprache nicht in die Wiege gelegt worden war. Er war sprachlos, konnte kaum Deutsch, als die Familie Ende der 1950er Jahre aus Tel Aviv nach Kaiserslautern übersiedelte. Als Achtjähriger musste er in die erste Klasse zurück. Ziemlich traumatisierend war das für ihn. Als seine Mutter merkte, dass er ganz gut kicken kann, schickte sie ihn, schlau wie sie war, zum 1. FC Kaiserslautern. Dort konnte er mit den Beinen sprechen. Es half ihm, sich zu integrieren. Die Roten Teufel haben ihm „quasi das Leben gerettet“.

Die Liebe zu diesem Verein hält bis heute an. So wie es der von Marcel Reif verehrte Nick Hornby beschrieb: Nicht man sucht sich seinen Vereinen aus. Der Verein sucht dich aus. Bis zum Achtzehnten kickte er in Kaiserslautern aktiv mit. Dann wurde er Student in Mainz und nebenher Journalist beim ZDF. Politik-Journalist. „Auf gar keinen Fall“ wollte er ins Sportressort. Der Sport sollte Hobby bleiben, aber nicht Beruf werden.

Das ZDF schickte ihn 1981 nach London. Diana-Hype, Kronprinzen-Geburt, Regen, U-Bahn-Streik. Der Nachwuchskorrespondent und Großbritannien-Fan Marcel Reif stand live vor der Klinik und ließ sich parallel von der BBC interviewen, was denn für die Deutschen so doll sei an dieser Prinzennummer. Wir haben kein Königshaus, aber vielleicht hätten wir’s gern, antwortete er. Und der Moderator, eine Art „heute-journal“-Instanz, schloss ab mit dem Satz, den Reif mit perfekter stiff upper lip repetiert: They might not have a prince or a princess, but at least the trains arrive on time. Have a good night.

Well, die Dinge ließen sich gut an. Aber dann wurden Berufsträume, die eigentlich schon Realität waren, zurückgepfiffen. Er habe das – „nicht meine Bewertung, sondern die der anderen“ – gut gemacht in London. Aber er war zu jung. Er war freier Mitarbeiter. Er war in keiner Partei. Ein anderer wurde Studioleiter und fragte ihn, ob er sein Stellvertreter werden wolle. Wollte er nicht. Und sagte dem Sport in Mainz zu.

Dort war gerade Dieter Kürten Sportchef geworden. Er muss in dem 14 Jahre jüngeren Kollegen und Kumpel das kommende Kommentatorentalent gesehen haben, und so ließ er Reif erst beim Eishockey, dann beim Fußball sich warmlaufen für den ersten großen Einsatz, die WM 1986 in Mexiko. Fortan tourten sie von Turnier zu Turnier, Länderspiele, Champions League, immer international. Verließen mittags die Restaurants viel zu spät und nicht in dem Zustand, wie es sich gehörte, und ordneten abends die Ballwechsel ein. Nur ein fröhlicher Zeisig kann schön trällern, war einer von Kürtens Wahlsprüchen.

Und noch etwas brachte „Mr. Sportstudio“ mit dem Silberhaar seinem Schützling bei: Beerdige sie nicht zwei Meter tief. Mach die Grube nur einen Meter, damit sie wieder aussteigen können. Spiele können kippen, und Spieler, die eigentlich nichts zustande kriegen, können plötzlich über sich hinauswachsen. Also warte mit deinem göttlichen Urteil.

„Es war das einzige, wo er mir reingeredet hat“, betont Reif. Das sei übrigens in allen Systemen so gewesen, in denen er gearbeitet habe, ob öffentlich-rechtlich oder Pay-TV: „Nie ist einer auf mich zugekommen, was ich wie zu kommentieren habe.“

Fußball, Fußball, Champions League. Schaut man sich die Karriere des Marcel Reif genauer an, zieht sich eine Rote Verfolgungslinie, immer schön den Übertragungsrechten im internationalen Fußball und seiner beruflichen Definition als Fußballkommentator hinterher. Wenn der Sender, bei dem er war, sie nicht mehr hatte, ging er zum nächsten. Vom ZDF zu RTL zu TM3 zu Premiere zu Sky zu Blue. Als ob ihn die Bundesliga langweile. Iwo, dementiert Reif, bei Premiere habe er ja auch die Erste Liga kommentiert. Aber doch nur die Premium-Spiele für den Premium-Moderator? „Das sagen Sie jetzt. Ich würde nicht widersprechen.“

Im Sommer 2021 stellte er das Kommentieren komplett ein. Weil es für ihn „auserzählt“ war. Weil er nicht wie sein guter Freund Dieter Kürten den Moment verpassen wollte, wo ihm der 17-jährige Ersatzspieler mit der Nummer 98 am Arsch vorbeigeht. Und nicht etwa, weil er es satthatte, mit dem Aufkommen der asozialen Medien Prügelknabe der Nation zu sein.

Dem Bedeutungsverlust vorbeugen

Sein Panzer war, dass er seinen Job konnte. Das sei ihm immer wichtig gewesen. „Das heißt: Ich mache keine Fehler. Wenn Sie mir in 35 Jahren als Sportkommentator vier Fehler nach meiner Definition nachweisen können, also die Geschichte eines Spiels nicht verstehen zum Beispiel, dann halte ich das für unwahrscheinlich.“ Das klingt sehr großkotzig, das weiß er selbst. „Aber wenn ich eitel und arrogant sein will, dann muss ich den Job können. Und das kann ich. Auch heute noch.“

Ja, aber.

War es nicht ein Fehler, als Fußballexperte zu „Bild“ zu gehen? Ausgerechnet zu dem Medienhaus, mit dem er selbst über viele Jahre private Kriege führte? Und dann auch noch im zarten Alter von 69, wo er sich doch zurücklehnen und das Leben mit seiner dritten Ehefrau auf Roten Teppichen genießen könnte?

„Wenn Sie mir vor zehn Jahren gesagt hätten, dass ich mal was mit Springer und der ,Bild‘-Zeitung mache, dann hätte ich Sie für verrückt erklärt“, antwortet Reif, der sich auf Fragen zu seinem „Bild“-Transfer natürlich vorbereitet hat. Was seine Einstellung geändert hat? Punkt für Punkt zählt er auf: „Erstens beugt es dem Bedeutungsverlust vor.“ Seine Familie hatte Bedenken, als er an Ruhestand dachte. Nur zuhause sitzen und niemand hört mehr zu, was er alles weiß, das wird schwer mit dem Alten. Zweitens fand er das Format „lustig“. Drittens: Kein Mensch verlange dort von ihm irgendwas, was er nicht mit größter Überzeugung und Lust tue.

Viertens: Geld? Die ökonomische Seite wolle er nicht wegdiskutieren. Aber wenn er immer danach gegangen wäre, hätte er vieles falsch gemacht im Leben. „Ich habe einfach Spaß daran.“ Auch Spaß daran, Schlagzeilen-Schleuder zu sein?

Moment, das bringt den Grandseigneur in Rage. „,Bild‘ macht Schlagzeilen, nicht ich!“ Wenn ihm einer seiner Kritiker nachweisen könne, dass er sich in seiner Art, mit den Dingen umzugehen, geändert habe, oder dass er bei „Bild“ anders oder boulevardmäßiger auf den Putz haue, als er sonst über Fußball zu sprechen pflege, dann hätte er ein Problem. „Aber ich glaube nicht, dass ich das tue.“ Punkt zwei: „Es ist mir kein einziges Mal passiert, dass mich Bild zu etwas gedrängt hätte nach dem Motto, du weißt schon, wo du hier bist.“

Marcel Reif © imago / Teutopress
Manchmal, das gibt er doch zu, wirke es bei „Reif ist Live“ gewollt verspielt. Sein von ihm seit Kriegstagen geschätzter Sparringspartner Brügelmann macht eine Maximalthese, und er müsse sie dann einfangen. Ach gut, denke er dann, einen mache ich dir von der Sorte rein, aber nicht zwei. „Ich bleibe in meiner Haut.“ Da sei „Doppelpass“, die Stammtischrunde auf Sport1, wo er bis zum Vorjahr nicht selten mit einem Gesichtsausdruck bis kurz vorm Erbrechen dabeisaß, „eine ganz andere Nummer“ gewesen. Es wurde ihm „zu klamaukig und zu laut“. Es war nicht mehr seins.

Mehr „seins“ ist jetzt also BILD TV. Dort jubelt man über „Rekordquoten“ von „bis zu 1,6 Prozent“ der Reif-Sendung, die es auch als Podcast gibt. Wer mal vor 23 Millionen Menschen ein WM-Finale kommentierte, kann darüber eigentlich nur müde lächeln, oder? Aber nicht, wenn er höre, wie gut die Podcasts und das ganze andere digitale Zeugs in der 360-Grad-Verwertung funktionierten, kontert Reif hellwach. Er fühle sich „nicht unwohl“ bei „Bild“, es macht ihm Spaß.

Lange Rede, kurzer Sinn: Er nehme jede Kritik ernst. Deshalb will er seinen Kritikern ein Versprechen mitgeben: Sollte er das Gefühl haben, das geht bei „Bild“ nicht so weiter, oder wenn er die Lust verliere, zweimal die Woche nach Berlin zu fliegen, um sich über Fußball zu äußern, dann ist er weg. Sofort. Dank Exit-Klausel.

Aber vorerst geht es in die Verlängerung. Bis Sommer 2023 geht sein Vertrag mit BILD TV. Inklusive WM-Einsatz.

Und, freut er sich auf Katar?

Er sei noch nicht im Vor-WM-Fieber, sagt Reif und weiß natürlich genau, worauf die Frage zielt. Darf man sich denn überhaupt freuen angesichts der Berichte über Menschenrechtsverletzungen? „Ich werde Fußball gucken, wie ich ihn auch sonst gucke. Werde ich auch auf andere Dinge gucken? Interessieren mich bei dieser WM Dinge mehr, als sie mich anderswo interessiert haben? Ganz sicher. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.“

Am 27. November, dem 1. Advent, feiert Marcel Reif übrigens seinen 73sten. Wäre es nicht ein tolles Geschenk, wenn dann Deutschland im Gruppenspiel Spanien wegputzen würde?