Wie die Menschen in der Ukraine ein Jahr nach Beginn der russischen Invasion mit dem Krieg in ihrem Leben zurechtkommen? Vassili Golod hat darüber einen Film gemacht, mit dem das Erste am Montagabend seinen Programmschwerpunkt anlässlich des Jahrestags eröffnen wird und über den er im Anschluss bei „hart aber fair“ live in Köln sprechen wird, als Autor und Ukraine-Korrespondent der ARD, die ihn im September nach Kiew entsandt hatte. Es war damals insofern eine bemerkenswerte Personalentscheidung, als Golod erst 29 war und noch ist. Erst am 11. März rundet er.

Keine 30 Jahre und schon in so verantwortungsvoller Position?

Der Sprung auf der Karriereleiter nach oben war blitzartig wie eine „Flèche“, würde man im Sportfechten sagen. Es ist eine Sprache, die Vassili Golod versteht. Er ficht seit seinem fünften Lebensjahr, gewann Pokale für den TC Hameln. Von seinem Fechttrainer Boris Touretski nahm er mit: „Du musst dein Gegenüber überraschen.“ Diesen Rat befolge er nicht nur auf der Planche, sondern auch in Interviews.

En Garde!

Wir treffen uns vis-à-vis im Café Funkhaus, dem beliebten Zweitwohnzimmer von WDR-Mitarbeitern. Golod weilt in Köln, um besagten ARD-Film zu produzieren. Ein paar Tage zuvor, als das Ja zu deutschen Panzerlieferungen noch ausstand, interviewte er erstmals und exklusiv für die ARD in Kiew Wolodymyr Selenskyj. Ein Präsident im Krieg saß da einem deutschen Journalisten gegenüber, der sich nicht, wie die von ihm geschätzten Kollegen Katrin Eigendorf (ZDF) oder Frederik Pleitgen (CNN) als Kriegsreporter versteht, sondern als: „Korrespondent, der in einen Krieg geraten ist und das in einem Land, über das ich mehr weiß als viele andere in der deutschen Gesellschaft und über das ich jeden Tag mehr lerne. Das zu vermitteln, ist mein Job.“

Vassili Golod mit Selenskyi © Präsidialamt Ukraine Vassili Golod interviewt den ukrainische Präsidenten Wolodymyr Selenskyj

Und was sein Alter betrifft, ja, natürlich könne man einwenden, dass er noch sehr jung sei, räumt Golod ein, während er Butter aufs Croissant streicht. „Aber ich finde, man sollte mich nicht auf das Alter reduzieren, sondern auf meine Erfahrung schauen, und die habe ich ausreichend.“

Seit er 16 ist, verdient Vassili Golod Geld mit Journalismus. Mit Zeilenhonorarschinderei bei seiner Heimatzeitung DEWEZET fing er an. Erste Übungsversuche hatte er da bereits in der sechsten Klasse in der Radio-AG am Gymnasium im beschaulichen Bad Pyrmont unternommen, weil sein Lehrer (Grüße an Thorven Lucht!) fand: Vassili, du redest viel, du bist sehr neugierig, du bist manchmal auch ein bisschen nervig. Also genau richtig, um Passanten auf der Brunnenstraße das Mikrofon unter die Nase zu halten.

Nach dem Abi verfolgt er dann zielstrebig sein Ziel: Korrespondent werden, im Ausland leben und verstehen, um dann das Verstandene anderen zu vermitteln. Politik-Studium in Göttingen, freie Mitarbeit beim Lokalsender Radio Aktiv in Bad Pyrmont, Social Media Editor bei der „Rheinischen Post“. Ab 2014 die erste Berührung mit seinem heutigen Haussender, bei „WDR grenzenlos“, einer Werkstatt für journalistische Talente mit Migrationshintergrund, wo er merkte: „Der WDR ist tatsächlich grenzenlos. Der Sender kann, auch wenn es manchmal kompliziert ist, viele Dinge ermöglichen.“

Vassili Golod © WDR/Annika Fußwinkel
Der Podcast „Machiavelli“ über Rap & Politik wurde ihm (und Jan Kawelke) zum Beispiel ermöglicht. Als Volontär durfte er von Moskau aus auf den Social-Media-Kanälen über die Präsidentschaftswahl in Russland 2018 berichten. Nach dem Volo-Abschluss unterstützte er ARD-Studioleiterin Annette Dittert in London. Brexit, Lockdown, Prinz Philips Tod, journalistisch reizlos waren die Zeiten auch in Great Britain nicht. Im Sommer 2021 kehrte Golod dann zurück nach Köln, in die Rolle des Chefs vom Dienst für die Nachrichten und Magazine im WDR Fernsehen.

Hierzulande war Bundestagswahl. In der Ukraine nahmen die Spannungen mit Russland zu. Golods Vorahnungen ebenso. Er erinnert sich an eine Redaktionskonferenz kurz vor Weihnachten 2021, in der er sagte, dass ein Angriff kommen könnte und es ihm große Sorgen bereite. Ab Januar setzte er immer wieder Ukraine-Schwerpunkte in „WDR aktuell“, zum Kopfschütteln mancher Kollegen, da passiert doch nichts. Womit Golod rechnete, war eine verstärkte Offensive im Donbas. Dass Putin das gesamte Land angreifen würde, konnte er sich indes nicht vorstellen. Es war ein Schock.

Und es war, so zynisch es klingt, auch ein Karrierebooster für Vassili Golod.

Die Mutter Russin (aus Nischni Tagil im Ural), der Vater Ukrainer, er selbst 1993 im ukrainischen Charkiw geboren, bevor ihn die Eltern zwischen vielen sehr alten Menschen in der niedersächsischen Provinz aufwachsen ließen – was für einen Glücksfall fand die ARD in ihren eigenen Reihen vor! Einen jungen, ehrgeizigen Mitarbeiter, der russischen Sprache mächtig, in der Region kundig und gut vernetzt, debattierfreudig und aufklärwillig, seit er am Beispiel seiner Großeltern in Russland sah, wohin staatliche Propaganda führen kann; nicht zuletzt, wie seine Chefredakteurin Ellen Ehni auf Nachfrage lobt, „ein hervorragender Journalist und im Ausland sehr erfahrener Reporter“.

Noch bevor die Panzer rollten, war Golod Teil des Kölner „Tagesschau“-Teams, unterstützte das Studio Moskau mit Beiträgen und diskutierte bei „hart aber fair“ gleich zweimal in Folge über den Ernst der Lage. Mit dem 24. Februar änderte sich dann schlagartig nicht nur das Leben für alle Menschen in der Ukraine. Kaum ein Tag verging ohne ARD-„Brennpunkt“. Golod berichtete, so viel er konnte, von Köln und später von Warschau aus. Aber nicht direkt aus der Ukraine über die Ukraine. Es fehlte ihm eine, wie er sagt, „zentrale und wichtige Voraussetzung für die Berichterstattung aus Kriegs- und Krisengebieten“: das obligatorische Sicherheitstraining.

Vassili Gold / Ukraine - Krieg im Leben © WDR/Robin Drescher Am Montag ist der Film "Ukraine - Krieg im Leben" im Rahmen des ARD-Themenabends zu sehen

Das bekam er Ende April, auf dem Lerchenberg. Aus dem Auto springen, von links der Beschuss, rechts der ZDF-„Fernsehgarten“ – absurder könnte die Kulisse nicht sein, um für den Kriegseinsatz zu trainieren. Aber am Ende ist der Ort zweitranging. ARD und ZDF bewiesen, wir können in der Not auch gut gemeinsam was auf die Beine stellen. Und Vassili Golod war gewappnet. Das war nicht nur seinem Sender wichtig, sondern auch ihm persönlich: „Ich bin ein sehr vorsichtiger Mensch und will keine unnötigen Risiken eingehen. Deshalb wollte ich über dieses Sicherheitstraining für mich klar haben: Traue ich mir selbst zu, in ein Land zu gehen, wo ich mit konstanter Bedrohung leben muss, jeden Tag und jede Sekunde?“

Anfang Juni, fast vier Monate nach Beginn der russischen Invasion, reiste Golod dann erstmals im ARD-Auftrag in die Ukraine. Zum 1. September folgte die Beförderung zum Korrespondenten (gemeinsam mit der Hörfunkkollegin Andrea Beer). Und damit noch rechtzeitig, bevor ihn andere Sender abwerben konnten. Das ZDF soll ihm angeblich ein Angebot unterbreitet haben. Beide Seiten halten sich dazu bedeckt. So oder so, es hat sich etwas beschleunigt, was ARD-seits aufzuholen war.

Dass Golods Arbeitgeber WDR, Europas zweitgrößter TV-Sender nach der BBC und in der ARD federführend für das Berichtsgebiet in der ehemaligen Sowjetunion, in den entscheidenden ersten Tagen des Angriffskriegs nicht vor Ort war, brachte ihn ins Feuer der Medienkritik. Während CNN die seit Wochen in der Ukraine parat stehenden Teams fix noch einmal aufstockte auf imposante 75 Köpfe, während die mit Preisen überschüttete Katrin Eigendorf sich mit ihrem ZDF-Team von Kabul aus auf abenteuerliche Weise Richtung Kiew durchschlug, während der One-Man-One-Show-Reporter der „Bild“, Paul Ronzheimer, quasi auf Selenskyjs Schoß saß, während Steffen Schwarzkopf für Welt die Stellung im Land hielt, wurden die Reporter der ARD par ordre du mufti aus Köln eiligst aus dem Kriegsgebiet abgezogen.

„Fundamentales Versagen“ der Öffentlich-Rechtlichen, diagnostizierte Katrin Eigendorf auf einer Podiumsdiskussion im vorigen November und sparte ihren eigenen Sender nicht aus. Sie habe ihre Aufgabe nicht so erfüllen können, wie sie ein Reporter in einem Kriegsgebiet erfüllen müsste. Schützenhilfe bekam die Star-Reporterin vom scheidenden „heute-journal“-Anchor Claus Kleber, dem zufolge das Delta zu BBC und CNN, das damals entstanden sei, „nach wie vor nicht geschlossen ist“. Golods Chefredakteurin, Ellen Ehni, tat einem fast leid, wie sie in dieser Runde die ARD-internen Entscheidungen verteidigte. Die Sicherheitsberater hätten doch zum Rückzug geraten. Überhaupt: „Es steht und fällt mit dem Mut der Personen, die dort sein wollen“.

Fehlte es an Mut?

Vassili Golod © WDR/Annika Fußwinkel
Das glaubt Vassili Golod nicht. „Es gibt sehr mutige Menschen in der ARD. Aber es braucht vor allem eine Struktur, die auf solche Situationen vorbereitet.“ Dass sein Sender womöglich unvorbereitet in die Eskalation gegangen ist, will er, der von sich sagt, er sei „oft und gerne dabei, meinen eigenen Laden zu kritisieren – bevorzugt intern“, öffentlich nicht bewerten. Er könne nur über seine Arbeit sprechen. Er findet: „Die inhaltliche Qualität der Berichterstattung, die wir in der ARD abgeliefert haben, war hoch. Dass wir jetzt im Land sind, sogar als eines der ersten deutschen Medien einen Standort in der Ukraine aufbauen wollen, ist ein großer und wichtiger Schritt. Die gesellschaftspolitischen Entwicklungen spürst du nur, wenn du in dem Land lebst.“ Das sei von Moskau aus schon immer schwer gewesen. „Jetzt ist es unmöglich.“

Der vom WDR im September laut angedachte Ausbau des Ukraine-Büros zum Studio lässt derweil noch auf sich warten. Ein Umzug in größere Räumlichkeiten mit umfangreicherer Technik wird noch geprüft. Im gewohnten Ankündigungsmodus bleibt auch noch der zentrale Krisenreporterpool, den der WDR gemeinsam mit anderen Landesrundfunkanstalten aufbauen will.

Vassili Golod muss sich also gedulden. Aber, gibt sich der Korrespondent genügsam, die Berichterstattung funktioniere ja auch so: „Um zu berichten, braucht es einen Laptop, eine Leitung, über die man schaltet, eine Kamera, Mikrofon, und dann läuft das.“ Vor allem brauche es ein engagiertes Team. Und das hätten sie vor Ort genauso wie in der Zentrale in Köln.

Wie er es aufgrund seines familiären Hintergrunds schaffe, in dieser auch emotional herausfordernden Zeit einen kühlen, unabhängigen Kopf zu bewahren, will man noch von ihm wissen, bevor er ans Schnittpult eilen muss. Ist er womöglich zu nah dran?

Vassili Golod, der Fechtmeister, ist zurück auf der Planche, geht zur Riposte über: „Ist ein Kölner, der für die Lokalzeit aus Köln berichtet, zu nah dran?“, fragt er zurück, „fehlt jemandem, der aus dem Ahrtal stammt und über die Flut berichtet, die nötige Distanz?“ Er glaube, dass wenn man das Wissen, das man über etwas hat, mit dem Handwerk Journalismus kombiniert, am Ende ein sehr gutes Ergebnis herauskommt. „Sollte ich dennoch einen Fehler machen, bin ich jederzeit gerne bereit, ihn zu korrigieren.“

Am Mittwoch wird Vassili Golod auf seinen Korrespondentenposten in Kiew zurückkehren. Sein Zweijahresvertrag endet im Herbst 2024, mit Option auf Verlängerung. Ein Ende des Kriegs ist nicht abzusehen.

„Ukraine – Krieg im Leben“, Das Erste, Montag, 13.2.2023 um 20.15 Uhr. Um 21 Uhr folgt „hart aber fair“ zum Thema „Putins Überfall, Europas Albtraum: Ein Jahr Krieg und kein Ende in Sicht?“. Das ZDF beginnt am 15.2.2023 mit einem „auslandsjournal“-Spezial um 22.15 Uhr den Programmschwerpunkt „1 Jahr Ukraine-Krieg“. In der Nacht zum 15.2. folgt um 1 Uhr Katrin Eigendorfs Reportage „Leben im Krieg – Wie Putins Angriff die Ukraine verändert“.