Eine große Zeitung im Süden Deutschlands hat kurz vor Ostern gleich zwei Bomben platzen lassen: Peter Urban, The German Voice of ESC, sei nie ein richtiger Fan von Europas größter Trällershow gewesen. Zweitens sei er so was von erleichtert, dass er nicht mit dem „tumb-teutonischen Mist“ eines Musikers nach Liverpool fahren müsse, der sonst Dosenbier am Ballermann verteilt.

DöpdödöDöpDöp, Pegelstufe 10 der Social-Media-Erregung war damit erreicht, mindestens! Die Fans von Ikke Hüftgold, dem verhinderten ESC-Reisenden, waren schwer beleidigt, dieser natürlich auch. Und Peter Urban? Regte sich gleichermaßen furchtbar auf. Habe er nie so gesagt, falsch zitiert . . .

Muss noch jemand überzeugt werden, dass der Eurovision Song Contest längst eine bierernste Angelegenheit ist? So viel Blood und wenig Glitter – womit hat der Mann, der am kommenden Samstag zum 25. und letzten Mal dieses musikalische „Spiel ohne Grenzen“ kommentiert, das verdient?

Sagen wir so: PR, auch wenn es keine gute ist, schadet nie. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf den Abschluss einer beispiellosen Laufbahn, in der die Musik schon immer die Hauptrolle spielte.

Ein Drittel seines Lebens hat Peter Urban, der im April den 75sten feierte, mit der Song-Europameisterschaft verbracht. Länger kommentiert sie nur der Schweizer Jean-Marc Richard (seit 1993). Den Titel „die Merkel des ESC“ könnte Urban hierzulande zurecht tragen, schließlich kennt eine ganze Fangeneration niemand anderes als ihn. Das größte Geschenk zum Doppeljubiläum hat er sich selbst gemacht, mit einer Autobiografie. Dummerweise kam diese just am selben Tag auf den Büchermarkt wie der gehypte MeToo-bei-Springer-„Schlüsselroman“ von Benjamin von Stuckrad-Barre. Beiden Autoren ist die verkaufsfördernde Wirkung eines Interviewmarathons wohlbekannt. Wir reihen uns ein.

Was macht der Ärger, Herr Urban?

Da drüben in Hamburg wird tief Luft geholt. Ehrlich gesagt, das Thema sei für ihn erledigt, antwortet die ESC-Legende. Geärgert habe er sich nicht über Ikke Hüftgold; „der kann manchen, was er will, das ist völlig in Ordnung“, sondern über die „Begleitumstände“. Mit dem Vorentscheid „Unser Lied für Liverpool“ habe er „absolut nichts zu tun“ gehabt und lediglich geäußert, dass er lieber mit der Band Lord of the Lost zum ESC fahre, „weil es ja unser Bemühen sein sollte, nicht unbedingt auf die letzten Plätze zu kommen“. Das sei alles, was er gesagt habe. „Was daraus gemacht worden ist, ist ärgerlich.“

Peter Urban © NDR / Benjamin Hüllenkremer
Wenn Peter Urban am heutigen Samstag nach Liverpool aufbricht, um wieder live vor Ort und nicht wie die zwei Coronajahre zuvor aus Hamburg-Lokstedt zu kommentieren, dann schließt sich gewissermaßen ein Kreis. Denn auch sein allererster ESC, 1997 in Dublin (von Liverpool übrigens keine 300 Kilometer über die Irische See), war von einer hochexplosiven Stimmung begleitet, nur ganz anderer Art.

Die Eurovisionsfanfare erklingt. Peter Urban begrüßt das Fernsehpublikum. Dass man sich in Irland befindet. Dass Irland eine Insel ist, „von Wasser umgeben“ (nicht der hellste Kommentar, wie er selbst später zugab). Da platzen plötzlich zwei Polizisten mit einem Sprengstoffspürhund in seine Kommentatorenkabine hinein wegen einer Bombendrohung. Die IRA war noch aktiv, protestantische Extremisten ebenso, Frieden in Nordirland in der Ferne. Der ESC-Debütant lässt sich von der Suchaktion nicht beirren. Redet in aller Ruhe weiter. Nur leider bekommt niemand in Deutschland was von seiner Coolness mit. Der Ton-Ingenieur in der NDR-Regie hat den Regler verwechselt oder ganz simpel vergessen, Peter Urban on Air zu ziehen.

Was mit einer Panne begann, entwickelte sich zu einer Erfolgsstory, die sich der damals 49-jährige Musikredakteur und Radiomoderator (u.a. „NDR 2 – Der Club“) nie hätte ausmalen können. Denn es gab tatsächlich eine Zeit, in der er dem Grand Prix Eurovision de la Chanson, wie der 1956 gegründete Liederwettbewerb ursprünglich hieß, nicht viel abgewinnen konnte.

Gegen das Elternhaus rebelliert

Aufgewachsen in Bramsche und Quakenbrück mit Klassik und Kirchenmusik, blieb dem son of a teacherman wohl keine andere Wahl, als mit Rockmusik, dem Sound der Achtundsechziger, gegen das christlich-konservative Elternhaus zu rebellieren. Der Brit-Radiosender BFBS wurde seine Musikschule, die Abiturreise nach London zum Erweckungserlebnis. Was die Beatles und die Stones spielten, hatte Beat und Groove, Bauch und Seele. Als Schüler haute er bei den Quaktown Rhythm Kings in die Tasten und tourte durch die norddeutschen Lande. Als Anglistik-Student sog er die wichtigen Ereignisse der aufblühenden Popszene in sich auf wie den allerersten Auftritt von Jimi Hendrix auf britischem Boden. Aber Schlager?

Peter Urban © NDR / Benjamin Hüllenkremer
Nicht sein Ding. Bis heute nicht. Ja, schon, die vielen Schlagershows bei ARD und ZDF, auf die sich ein Millionenpublikum auch mangels Popalternativen einigt, hätten ihre Berechtigung, aber Peter Urban wünschte, es wäre anders: „Wir bräuchten auch mehr Formate wie ,Inas Nacht‘ für die Newcomer und für die kleinen Perlen, die es in der Musik zuhauf gibt.“ Er selbst hausierte in den 1990ern mit der Idee für einen Musik-Talk im TV, wo Leute über Musik reden, die wirklich was davon verstehen. Zum Glück gibt es jetzt Podcasts. In seinem eigenen, „Urban Pop“, macht er, was Annie Lennox besang: Talk to me, like lovers do.

Geschwind zurück in die Achtziger und Neunziger. Musikkenner Urban, der in jenen Jahren optisch was von Tom Selleck hatte, zumindest im Sitzen, also Brusthaar ohne Ende, Vokuhila samt imposantem Schnauz, bewährte sich als Kommentator epochaler Musikereignisse wie dem 15-stündigen Live Aid oder dem Konzert zu Nelson Mandelas Siebzigstem so gut, dass NDR-Fernsehunterhaltungschef Jürgen Meier-Beer ihn Ende 1996 fragte, ob er sich vorstellen könnte, den Grand Prix zu kommentieren. In Urbans Buch heißt es schlicht: „Ich sagte zu.“

Zwischen Euro-Dance, Balladendrama und Schlagerspaß entdeckte Peter Urban immer wieder „richtig gute Songs“. Er begleitete fortan die Höhen und Tiefen des Musikwettbewerbs, und die vielen „Germany, Zero Point“-Phasen. Die ARD war nach dem Alex Swings Oscar Sings-Debakel 2009 so sehr verzweifelt, dass sie sogar Peter Urban als Kommentator in Zweifel zog. Erst kurz vor knapp kam der Anruf des neuen Chefs, du bist wieder dabei. Thomas Schreiber hatte auch die bis dato ungehörige Kooperation mit dem Privatsender Pro Sieben und Stefan Raab eingefädelt.

Wie die Geschichte 2010 in Oslo mit lovely Lena ausging, ist bekannt. Frei nach John Lennon: A splendid time was guaranteed for all. Nur leider nicht von Dauer. Die deutschen ESC-Beiträge dümpelten bald wieder auf den hintersten Plätzen, obwohl Lena Meyer-Landruts Entdecker Raab hinter den Kulissen weiter mitmischte. Die Verantwortung war geteilt, aber die Prügel steckte immer nur der NDR ein. Das ging Peter Urban „manchmal gegen den Strich“, so wie es ihn überhaupt total wurmt, wenn das öffentlich-rechtliche Rundfunksystem, dem er über seine Pensionierung 2013 hinaus in Nibelungentreue verbunden ist, angegriffen wird.

Die Öffentlich-Rechtlichen sollen nur noch Information und ein bisschen Kultur zeigen dürfen und die Privatsender mit ihren menschenverachtenden Reality-Shows die Unterhaltung? Wie armselig wäre das denn? Peter Urban kann sich da wirklich in Rage reden, wenn man ihn um seine Meinung zu den jüngsten Plänen aus der Politik bittet. Aber cool down, wir wagen die Prognose: Dem ESC mit seinen weltweit mehr als 200 Millionen Zuschauern droht in der ARD wohl keine Gefahr.

Nur wer soll ihn eigentlich künftig kommentieren?

Darüber will sich Peter Urban „keine Gedanken“ gemacht haben. Das müssten die Verantwortlichen im Sender tun. Was er sich höchstens wünsche: „dass die Kommentierung mit Liebe gemacht wird und cool bleibt“. Einen marktschreierischen Radio-DJ, der fröhlich, lustig, laut ist, fände er ebenso unangemessen wie zu viel Detailversessenheit. Es gebe eine Riesenschar von leidenschaftlichen ESC-Fans, die wirklich jede Platzierung, jedes Kostüm und was auch immer kennen. „Das ist bemerkenswert. Aber es interessiert die Zuschauer nicht.“ Sein Nachfolger sollte diese 30 Sekunden vor und 10 Sekunden nach dem Song nicht mit Statistiken und Fakten überladen, so wie es zu Urbans Graus in der Fußballwelt Unsitte geworden ist.

Na, da wäre Jan Böhmermann, der es mit den Fakten bekanntlich nicht so ganz genau nimmt, doch der ideale Nachfolger, oder nicht?

Fakt ist: Der selbsternannte Clown vom ZDF wird in Liverpool gemeinsam mit Olli Schulz in die Bütt gehen, als Kommentatoren im österreichischen Auftrag, und notfalls, so hat er es gerade dem „Stern“ gesagt, auch für Lord of the Lost auf der Bühne einspringen. Die beiden – wie soll er sie nennen? Novizen? – seien „die Schnapsidee eines Radiosenders, der anscheinend ein bisschen PR braucht“, urteilt Peter Urban. Aber wenn es dem ESC größere Popularität bringt, warum nicht? Er verehre und liebe Böhmermanns Magazin-Sendung. Dass dieser den ESC von vornherein als satirische Angelegenheit durch den Kakao ziehen will, mag er aber ganz und gar nicht.

Neue Ernsthaftigkeit

„Es ist eine ernsthafte Musikshow, die viel zu lange als Skurrilität betrachtet wurde.“ Selbst die Engländer nähmen die Sache inzwischen ernst, nachdem Terry Wogan jahrzehntelang eine Comedy-Show daraus gemacht hatte, wozu es „überhaupt keinen Anlass gibt“, denn: „So viel Lustiges ist nicht mehr dabei, worüber man sich lustig machen könnte.“ Die großen skurrilen Aussetzer früherer Jahrzehnte, die man ironisch oder zweideutig kommentieren könnte, gebe es beim ESC nicht mehr. „Alle sehen toll aus, alle performen professionell.“

In einer Zeit, wo Sprache zum Minenfeld geworden ist und das, was gerade gesagt wurde, von übereiligen Hörern noch vor der Pointe in Twitter & Co. getippt wird, wägt Peter Urban genauer ab als früher, ob eine Formulierung, ob lustig oder einfach deskriptiv, jemanden beleidigen oder diskriminieren könnte. „Attraktive“ oder „hübsche Sängerin“ zum Beispiel, so was gehe manchen heutzutage schon zu weit. „Das macht die Angelegenheit für mich natürlich nicht lustiger, eher trockener und weniger bunt.“ Über Äußerlichkeiten will er sich nicht mehr auslassen.

Aber was ist mit Politik?

2022 war der ESC eine europäische Volksabstimmung gegen den russischen Angriffskrieg. Das überragende Ergebnis für die Ukraine ist für Peter Urban „logisch und verständlich“. Auch wenn er nach wie vor findet, dass dieser 1956 gegründete Gesangswettbewerb in politisch schwierigen Zeiten immer noch ein wunderbares Beispiel für internationale Verständigung sein kann, plädiert er generell für Zurückhaltung bei politischen ESC-Kommentaren, wobei es immer auf den Einzelfall ankomme: „Zum Krieg in der Ukraine kann man nicht schweigen, so wie ich auch 2012 in Baku zu den Umständen in Aserbaidschan etwas sagen musste.“

Natürlich könne der ESC keine Kriege und keine politischen Streitigkeiten beenden, fährt Peter Urban fort, „aber er kann in der Notlage jenen eine Stimme geben, die anklagen. Er kann trösten, vielleicht ihren Schmerz lindern, einfach Freude machen.“

Mit diesen wohlweisen Worten lässt man Peter Urban gerne von dannen ziehen. Aber nicht, ohne ihm zum Schluss die Frage aller Fragen zu stellen:

Wie weit kommt Deutschland?

Weit, glaubt er. „Um beim ESC erfolgreich zu sein, musst du auffallen und was Besonderes bieten. Langeweile, Mainstream, das bringt niemanden weiter.“ Weil die Band Lord of the Lost außergewöhnlich aussehe und außergewöhnlich klinge, könne sie eine Aufmerksamkeit erreichen, die den Menschen in Europa im Kopf bleibt. „Unsere Beiträge in den letzten Jahren wurden oft schnell vergessen oder gar nicht erst bemerkt im großen Feld der Vielfalt.“ Sein Wort in Europas Ohr!

Zur Krönung seiner 25-jährigen ESC-Karriere wünscht sich Peter Urban für sich ganz schlicht, dass er einen „netten, angenehmen Abend“ in Liverpool verbringt. „Traurig genug werde ich sowieso selbst schon sein.“

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