Diese Telegeschichte beginnt im Juli 1993 mit der Verlängerung des Kooperationsvertrags zwischen der Arbeitsgemeinschaft Fernsehforschung (AGF) und der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK). Hinter der AGF steht ein Zusammenschluss der öffentlich-rechtlichen Anstalten sowie der privaten Rundfunkanbieter RTL, Sat.1, Pro Sieben und DSF. Seit sechs Jahren setzen sie gemeinsam eine einheitliche Reichweitenmessung der Fernsehnutzung in Deutschland um. Dafür arbeitet die AGF von Anfang an mit der GfK zusammen. Diese Partnerschaft wird nun vertraglich verlängert und die GfK bleibt unverändert für die technische Messung und Veröffentlichung der Einschaltquoten verantwortlich.
Der neue Vertrag tritt am 1. Januar 1995 in Kraft und gilt fünf Jahre. Allein der Basisauftrag hat in diesem Zeitraum ein Volumen von 132,5 Mio. DM. Jede darüberhinausgehende Sonderauswertung wird extra vergütet. Dass die Aufgabe erneut an die GfK geht, liegt vor allem an ihrer Zuverlässigkeit. Seit der ersten Beauftragung im Jahr 1985 liefert das Unternehmen lückenlos valide Zahlen. Das ist ein wichtiger Faktor, immerhin werden auf Basis dieses Systems über alle Kanäle hinweg jährlich Werbeverträge im Gesamtwert von fünf Mrd. DM vergeben.
Für die anstehende Auftragsperiode vereinbart man eine umfangreiche Weiterentwicklung der bisherigen Messmethode. Hierdurch sollen fortan Rückschlüsse darauf möglich sein, welche Personen konkret vor den Fernsehgeräten sitzen, über welches Einkommen sie jeweils verfügen, welches Kaufverhalten sie aufweisen und in welchen Lebenswelten sie sich bewegen. Angaben, die vor allem für die privaten Sender wertvoll sind, um Programme gezielter auf die für die Werbewirtschaft attraktiven Zielgruppen zuschneiden zu können.
Künftig sollen dafür von den ausgewählten Zuschauenden neben den nackten Einschaltzahlen auch ihre personenindividuelle Nutzungsdaten ermittelt und beide Informationen zusammengeführt werden. Zugleich soll die Anzahl der erfassten Haushalte und Personen erweitert werden. Einerseits, um nach dem Zutritt der ostdeutschen Länder eine gleichmäßige regionale Verteilung herstellen und andererseits, um bisher nicht erfasste Bevölkerungsgruppen einbeziehen zu können. Konkret geht es um 6,5 Millionen Menschen, die in Deutschland ohne deutsche Staatsbürgerschaft leben und bisher nicht berücksichtigt werden. Sowie um alle kleinen Kinder unter sechs Jahre, die ebenfalls noch nicht einbezogen sind. Diese Altersgrenze wird nun auf drei Jahre herabgesetzt.
Zusätzlich wird der Messtakt von einer halben Minute auf eine Sekunde herabgesetzt, sodass bald selbst jedes schnelle Zappen registriert werden kann. Zuletzt wird vereinbart, dass der Sendetag fortan nicht erst um 6.00 Uhr, sondern schon in der Nacht um 3.00 Uhr endet. Auf diese Weise können die ermittelten Einschaltquoten bereits am Folgetag gegen 9.00 Uhr zur Verfügung gestellt werden. Der neue Vertrag zwischen AGF und GfK bildet also eine echte Zäsur in der langen Geschichte der Erfassung des Fernsehkonsums in Deutschland.

All das im laufenden Betrieb. Ohne Umstellungspause. Was soll da schon schiefgehen?
Der schwarze Freitag der Quotenmessung
Am 16. Dezember 1994 dann der Schock für die gesamte Branche. An diesem Freitag musste Michael Darkow, Chef der GfK-Fernsehforschung, öffentlich eingestehen, dass es bei der Systemumstellung zu einer Abweichung kam, durch den man in der jüngeren Vergangenheit fehlerhafte Einschaltwerte ausgeliefert hatte. Aufgefallen war dies, weil plötzlich viele Publikumserfolge überraschend an Zuspruch verloren, während andere Produktionen einen unerwartet hohen Zulauf erhielten.
Zunächst war man intern davon ausgegangen, dass sich die Abweichung lediglich auf die vergangenen Tage bezog, da hier die Unregelmäßigkeiten besonders sichtbar waren. Es stellte sich jedoch heraus, dass die Störung bis Anfang Oktober zurückreichte. Somit hatte man für rund zweieinhalb Monate unzutreffende Werte errechnet und diese falschen Zahlen so veröffentlicht. Was für ein Albtraum.
Anfangs blieb unklar, worin die konkrete Ursache lag. Fest stand einzig, dass es eine fehlerhafte Senderzuweisung bei den 300 Haushalten gab, die ihr Fernsehprogramm per Satellit empfingen. Deren Einschaltzeiten wurden irrtümlicherweise ausschließlich den Kanälen RTL, RTL 2 und TV3 Schweden zugewiesen. Dadurch stiegen deren Sehbeteiligungen erheblich an. Der Marktanteil von RTL 2 wuchs beispielsweise in dieser Zeit von vier auf über acht Prozent. Im Gegenzug sanken die Ergebnisse der anderen Sender erheblich. Ihnen fehlten in der Berechnung sämtliche Satelliten-Haushalte. Etwa sackte der Marktanteil von ProSieben und Sat.1 jeweils um einen Prozentpunkt ab. In der Spitze fehlten bei einzelnen Ausstrahlungen bis zu zwei Millionen Zuschauende.
„Das Geld ist weg.“
Für die benachteiligten Sender wurde die Panne teuer. Sie mussten teils empfindliche Ausfälle kompensieren, weil die zugesicherten Reichweiten angeblich nicht erreicht wurden. Noch fataler war, wie sensibel die Werbewirtschaft auf das plötzliche Auf und Ab der Quoten reagierte. Binnen kürzester Zeit wurden Budgets hektisch von ProSieben abgezogen und zu RTL 2 umgeschichtet. Am Abend des Bekanntwerdens zeigte sich die damalige ProSieben-Sprecherin Angelika Cyllok entsetzt: „Die Firmen haben noch während des laufenden Programms Werbung umpositioniert.“ Den entsprechenden Verlust bezifferte sie auf einen Betrag im zweistelligen Millionenbereich. „Der Schaden ist nicht wiedergutzumachen, das Geld ist weg“, lautete ihr resigniertes Fazit.
Schnell forderten einige Verantwortliche, die GfK müsse für die Einbußen aufkommen. Vor allem Stephan Klebe, Leiter der RTL-Medienforschung, machte Druck und kündigte an, man werde „einiges in Rechnung stellen“. Schließlich habe seine Marketingabteilung unzählige Überstunden leisten müssen. GfK-Geschäftsführer Michael Darkow wiegelte ab. Gegenüber den „Nürnberger Nachrichten“ erklärte er, man stehe vertraglich nur dafür ein, „dass der Schaden geradegebogen wird“ – nicht aber für Folgeschäden. Außerdem seien der GfK für die Fehlerbehebung selbst Kosten in Höhe von 2,5 Millionen DM entstanden.
Ohnehin blieb fraglich, ob sich das Unternehmen tatsächlich für die Reaktionen des Marktes haftbar machen ließ. Viele TV-Anbieter verzichteten deshalb auf konkrete Forderungen. Und selbst eine Sammelklage hätte wohl wenig Aussicht auf Erfolg gehabt, wie Angelika Cyllok ernüchtert bilanzierte: „Wenn die in der AGF organisierten Sender alles zusammenzählen und der GfK in Rechnung stellen, dann ist die pleite.“
„Die Glaubwürdigkeit ist dahin“
Neben all den finanziellen Auswirkungen bestand der größte Schaden in der nun angeschlagenen Reputation des Messsystems. „Die Glaubwürdigkeit ist dahin“, klagte Stephan Klebe. „Die einzig gültige Währung im TV-Geschäft ist zusammengebrochen.“
Insbesondere in diesem Punkt versuchte GfK-Chef Michael Darkow, das Vertrauen zu retten, und erklärte gegenüber den „Nürnberger Nachrichten“: „Das ist unser erster Fehler von solcher Tragweite in zehn Jahren. Wir stehen zu diesem Fehler und bedauern die so entstandenen Mängel.“ Auch GfK-Vorstand Gerhard Kirschner bemühte sich um Schadensbegrenzung und gab selbstkritisch zu: „Das Peinliche daran ist, dass der Fehler lange nicht bemerkt wurde.“ Daher sollten die internen Kontrollen künftig verschärft und alle Ergebnisse von einem unabhängigen Institut überprüft werden.
Und natürlich bemühte man sich bei der GfK nach Kräften, die aktuelle Panne so schnell wie möglich zu bereinigen. Schon unmittelbar nach dem Bemerken erster Abweichungen begannen Technikerinnen und Techniker nach der Fehlerquelle zu suchen. Kurz vor Weihnachten arbeiteten sie dann in Extraschichten daran, alle falschen Zuordnungen der vergangenen Wochen zu revidieren und die kommunizierten Quoten zu berichtigen. In der Hektik unterliefen dem Team sogar neue Fehler, weswegen die verbesserten Daten dann noch einmal verbessert werden mussten. Das half natürlich wenig beim Vertrauensaufbau.
Wie sich nach der endgültigen Neuberechnung herausstellte, waren die Verschiebungen teilweise größer als angenommen. So kam ProSieben im November nicht auf einen Marktanteil von 8,7, sondern auf 9,5 Prozent. Unterdessen konnte sich Sat.1 jetzt sogar rühmen, hinter RTL den zweiten Platz in der Publikumsgunst erobert zu haben. Auf Sendungsebene waren die Diskrepanzen ähnlich erschreckend. Die Ausgabe von „Schreinemakers live“ vom 8. Dezember erreichte tatsächlich eine Sehbeteiligung von 5,79 Millionen statt der ursprünglich gemeldeten 5,31 Millionen Zuschauenden. Dagegen kam eine Episode des RTL-Magazins „Notruf“ am 12. Dezember bloß auf 3,09 Millionen. Ein Minus von 1,41 Millionen gegenüber der vorherigen Berechnung.
Pleiten, Pech und Pannen
Mit dem Start des neuen Messverfahrens setzte sich das Unglück nahtlos fort. Am 2. Januar versäumte es die GfK, jene Haushalte in die Berechnung einzubeziehen, die am Tag zuvor überhaupt nicht ferngesehen hatten. Eine nachträgliche Korrektur der Quoten war abermals nötig. Sie zeigte, dass etwa „Rudis Urlaubsshow“ lediglich von durchschnittlich 5,85 Millionen Menschen eingeschaltet war und nicht von 6,27 Millionen, wie es zuvor vermeldet wurde.
Am Morgen des 5. Januars übermittelten die Rechner zudem zu wenige Daten an die Nürnberger Zentrale, sodass dort nicht genug Material vorlag, um verlässliche Einschaltquoten für den Vortag zu berechnen.

Angesichts der anhaltenden Ausfälle und der öffentlichen Kritik, die mit jeder neuen Störung auf die GfK einprasselte, entschloss man sich dort notgedrungen dazu, ab dem 13. Januar 1995 vorerst gar keine Einschaltquoten mehr zu veröffentlichen. Und zwar solange, bis das System wieder fehlerfrei funktionierte. Dafür wollte man sich bis zu 14 Tage Zeit nehmen. Ein drastischer Schritt, denn er bedeutete für zwei Wochen ein deutsches Fernsehen, das gänzlich ohne Einschaltquoten quasi blind vor sich hinsendete.
Doch ganz so schlimm kam es am Ende nicht. Schon etwa eine Woche später vermeldete die GfK, die tägliche Veröffentlichung ihrer ermittelten Daten wieder wie gewohnt aufzunehmen. Dann konnte sie ebenso sämtliche Einschaltquoten der vergangenen Monate korrigiert und lückenlos nachreichen.
Ab diesem Zeitpunkt lief das neue System störungsfrei. Eine Panne vergleichbaren Ausmaßes hat sich in Deutschland seither nicht wiederholt. Aus diesem Grund verantwortet die GfK die Reichweitenmessung von deutschen Bewegtbildangeboten bis heute.
Kleiner Fehler, große Wirkung
Was aber war eigentlich die Ursache für die falsche Zuordnung und warum wurde sie erst so spät bemerkt? Eine Antwort auf diese Fragen lieferte GfK-Chef Michael Darkow in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ nach. Darin erklärte er: „Der Fehler ist erst dadurch entstanden, dass wir im September des vergangenen Jahres damit begonnen haben, Haushalte mit eigenem Satelliten-Receiver auf eine neue Messtechnik umzurüsten. In diesen Satellitenhaushalten werden die vom Receiver empfangenen Frequenzen in eine Art Kanaltabelle übersetzt – und genau bei diesem Übersetzen hat ein Softwareprogramm die Sendercodes nicht vollständig gelesen.“ Verantwortlich dafür sei schlicht menschliches Versagen. Ein winziger Fehler, der einem Programmierer unterlaufen sei. Anfangs wäre das Problem nur in wenigen Haushalten aufgetreten, doch mit der voranschreitenden Umstellung der fehlerhaften Software sei die Verzerrung der Ergebnisse immer deutlicher geworden. „Am 10. September war es ein Haushalt, Mitte Dezember waren es bereits rund 350.“
Übrigens, als das Schweizer Fernsehen zu Beginn des Jahres 2013 sein damaliges Messsystem umstellte, kam es ebenfalls zu erheblichen Differenzen zwischen den vorherigen und den neuen Resultaten. Daraufhin wurde die Verlässlichkeit der Daten von mehreren Sendern infrage gestellt. In der Folge untersagte ein Gericht die Veröffentlichung sämtlicher Einschaltquoten für das Schweizer Fernsehen. Und zwar so lange, bis die Korrektheit des Verfahrens juristisch bestätigt war. Die zuständige Stiftung Mediapulse durfte die Sehbeteiligungen also weiterhin berechnen, jedoch nicht an die TV-Kanäle ausgeben oder irgendwie sonst publizieren. Zugleich war es Journalistinnen und Journalisten untersagt, über konkrete Zahlen zu berichten. Diese Phase dauerte erheblich länger an als in Deutschland. Bis der Streit ausgeräumt war, vergingen mehrere Monate. Das allerdings ist eine ganz andere Telegeschichte.
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