Diese Telegeschichte beginnt am 18. März 1973 in einem Studio in Köln. An diesem Abend führte der WDR unter dem Titel "Je später der Abend" erstmals im deutschen Fernsehen eine "Talkshow" auf. Noch unter dem Deckmantel eines innovativen Experiments und vorerst auf vier Ausgaben begrenzt. Worum es dabei genau ging, musste der Gastgeber Dietmar Schönherr seinem Publikum zunächst erläutern: "Eine Talkshow - was ist das? Darüber zerbrechen sich seit einiger Zeit die Fernsehmacher in den verschiedenen Anstalten die Köpfe. Sie haben sicherlich viel darüber gelesen und gehört. [...] Talk kommt von to talk, reden, und das Ganze ist also eine Rederei." Bis dahin hatte man von einer Unterhaltungssendung vor allem Auftritte von musikalischen Interpreten, artistische Darbietungen oder illustre Spiele mit prominenten und nicht prominenten Teilnehmenden erwartet. Nun also sollte nur "ganz gemütlich" geredet werden.

Am Anfang war das Wort

Je später der Abend © Screenshot ARD Die erste Talkshow im deutschen Fernsehen
Das Format und den Begriff der Talkshow hatte man bei "Je später der Abend" aus dem amerikanischen Fernsehen übernommen, wo solche Konzepte schon längst zum festen Bestandteil des Programms gehörten. Zu Beginn der 1950er Jahre entstand dort der Ansatz, lockere, spontane und zwanglose Konversationen vor laufenden Kameras zu zeigen. Insbesondere Johnny Carson machte die "Tonight Show" ab 1962 bis heute zu einer verlässlichen Institution. Um dieser Übermacht etwas entgegnen zu können, trat Dick Cavett nach einigen Probeläufen und Korrekturen mit einem etwas abweichenden Ansatz an. In der "Dick Cavett Show" sprach er ab 1968 ebenfalls mit prominenten Persönlichkeiten, die dort aber oft aus dem politischen Bereich kamen. Mit ihnen diskutierte er häufig kritisch über gesellschaftlich relevante Themen, wenngleich er es genauso verstand, lockere und witzige Plaudereien zu führen.

Die Inflation an neuen Talks in den USA geriet zu dieser Zeit in das Blickfeld der deutschen Fernsehanstalten, die begannen, eine Einführung dieses Genres in Erwägung zu ziehen, obgleich talkshowartige Ansätze hier längst existierten. Einzig der Name war noch nicht geboren. Dies erfolgte erst durch die gezielte Übernahme der amerikanischen Vorbilder.

Dick Cavett Show © IMAGO / Everett Collection Dick Cavett hat Woody Allen zu Gast
Um die deutschen Zuschauenden auf die erste heimische Adaption einzustimmen, zeigte der WDR erst einige Original-Ausgaben der "Dick Cavett Show", deren journalistischer Anstrich für die deutschen Verantwortlichen seriöser und damit attraktiver als die reinen Unterhaltungssendungen wirkte. Bei den ausgewählten Beispielen handelte es sich jedoch um Sonderausgaben, in denen Cavett nicht wie üblich mit mehreren Gästen im 10-Minuten-Takt sprach, sondern sich ausnahmsweise auf einen Gast konzentrierte. Darunter befanden sich ausführliche Interviews mit Fred Astaire, Bette Davis und Alfred Hitchcock. Durch die Ausstrahlung der Cavett-Specials und dem begleitenden Medienecho war die Rederei endgültig im Bewusstsein der Deutschen angekommen und es auf die Einführung der ersten deutschen "Talkshow" vorbereitet.

Striptease im heimeligen Wohnzimmer

Das erklärte Ziel der Redaktion von "Je später der Abend" war es, in "heimeliger, geselliger Stimmung" die prominenten Gäste "mit freundlichen, aber gezielten Fragen zu ermuntern, Auskünfte zur Person zu geben, um sie möglichst bis an die Grenze des seelischen Striptease zu entblättern". Das zumindest versprach der zuständige WDR-Redakteur Hans-Joachim Hüttenrauch vollmundig im Interview mit dem "Spiegel". Entsprechend glich die anfänglich genutzte Kulisse eher einem für diese Zeit typischen bürgerlichen Wohnzimmer als einer Fernsehbühne.

Aufgrund der unerwartet großen Zuschauerresonanz, die sich in mehr als 1.000 positiven Briefen niederschlug, erfuhr die Sendung kurz nach ihrer Premiere eine Verlängerung und wenig später die Beförderung ins Gemeinschaftsprogramm der ARD, wo sie ab 1976 sogar den zentralen Platz am Samstagabend um 20.15 Uhr erhielt. Durch diese prominente Platzierung und einem Pensum von nur zwölf Ausgaben pro Jahr geriet jede Folge zu einem Fernsehereignis, bei dem die halbe Nation interessiert zusah. Obwohl die Reichweiten mit bis zu 12 Millionen zusehenden Menschen oder Einschaltquoten von rund 50 Prozent regelmäßig erfreulich waren, stand die Reihe oft in der Kritik der Presse. Häufig wurden der banale Verlauf und der fehlende Tiefgang bemängelt. Ein Vorwurf, den weder Dietmar Schönherr noch seine beiden Nachfolger Hansjürgen Rosenbauer und Reinhard Münchenhagen gänzlich abschütteln konnten.

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Aller Biederkeit zum Trotz waren es schon damals ausgerechnet die Episoden mit unerhörten Vorfällen, die im kulturellen Gedächtnis des Publikums haften blieben. Hierzu zählten der mürrische Auftritt von Klaus Kinski oder auch der verschüchterte Romy Schneider, die den ebenfalls anwesenden Schauspieler und Bankräuber Burkhard Driest mit den berühmten Worten "Sie gefallen mir. Sie gefallen mir sehr" anhimmelte.

"Ja, nun sind wir also zum ersten Mal da": Der Daily Talk kommt nach Deutschland

Phil Donahue © IMAGO / Everett Collection Phil Donahue war Vorbild für den deutschen Talk
Weitestgehend unabhängig von der Entwicklung der abendlichen Prominenten-Shows setzte sich in den USA ab den 1960er Jahren das kostengünstige Konzept auch im werktäglichen Tagesprogramm durch. Dort fand es dank fester Zeiten schnell Akzeptanz und entwickelte sich zu einer lukrativen Facette. In diesen neuen, täglichen Formaten wurde harmlos geplaudert und nette Moderatoren scherzten mit prominenten Gästen über neue Filme, Bücher oder Mode. Um sich davon bewusst abzusetzen, sprach der Journalist Phil Donahue ab 1967 in seiner nach ihm benannten Show kontroverse und politische Themen an und diskutierte offen über Fragen der Sexualität.

Die Redaktion initiierte oft hitzige Diskussionen, indem sie gezielt Menschen mit unterschiedlichen Meinungen gegeneinander aufstellte. Ab 1986 sprach die amerikanische Moderatorin Oprah Winfrey in ihrer Nachmittagssendung ebenso über gesellschaftliche Tabus, allerdings auf eine emotionale und nicht mehr journalistisch neutrale Art und Weise. Diese Herangehensweise war beim (hauptsächlich weiblichen) Publikum derart beliebt, dass sie bis zum Ende fast durchgehend die höchsten Einschaltquoten am Nachmittag einfuhr. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt erreichte die tägliche, amerikanische Talkshow-Welle Deutschland.

Hans Meiser im Studio © IMAGO / Horst Galuschka Hans Meiser mit typischer Pose im Studio
"Ja, nun sind wir also zum ersten Mal da." Mit diesen wenig glanzvollen Worten eröffnete der ehemalige Nachrichtensprecher Hans Meiser am 14. September 1992 um 16:00 Uhr bei RTLplus seine neue nach ihm benannte Reihe. Damit gilt er als erster deutscher Vertreter des Genres, wenngleich es vor ihm erfolglose Versuche gab, eine tägliche "Rederei" zu etablieren. Mit "Ilona Christen" (RTL, um 15:00 Uhr) und "Fliege" (ARD, um 16:00 Uhr) standen schnell die ersten Nachahmer bereit, die sich wie Meiser ausdrücklich an den Vorbildern Winfrey und Donahue orientierten. Gekennzeichnet waren die Produktionen davon, dass sie am werktäglichen Nachmittag in monothematischen Ausgaben alltägliche Themen aufgriffen und von (mehr oder weniger) Betroffenen und weniger von Experten diskutieren ließen, die sich mit verschiedenen Blickwinkeln und Standpunkten zum Thema verhielten.

Ab 1993 brachte der tägliche Talk von Ricki Lake in den USA eine neue Note in das Genre. Adressierten die bisherigen Vertreter vor allem ein erwachsenes oder gar älteres Publikum, richtete sie sich durch ihr Alter und die Inszenierung ihrer Gespräche an Menschen zwischen 18 und 34 Jahren. Bei der Themenwahl orientierte sie sich hierbei stark an den Problemen der jungen Zuschauenden und griff hauptsächlich Beziehungsprobleme auf. Die konsequent junge Ausrichtung brachte nicht nur die etablierten Vorgänger in Bedrängnis, sie zeigte sich überdies für die Werbeindustrie als höchst attraktiv, die auf diese Weise eine junge eskapistische, konsumfreudige Zielgruppe erreichte. In "Arabella" (ProSieben, um 14:00 Uhr) und "Bärbel Schäfer" (RTL, um 14:00 Uhr) fanden sich schnell die ersten deutschen Pendants, die das Genre ähnlich wie Ricki Lake ins Interesse junger Leute zog.

Arabella © IMAGO / teutopress Arabella Kiesbauer talkte bei ProSieben
Im Fall von "Arabella" kombinierte man die amerikanische Vorlage zusätzlich mit dem Tempo, der Bildsprache und dem Look der damaligen Musiksender VIVA und MTV und erhielt ein stark auf Jugendliche zugeschnittenes Ergebnis. Ein Ergebnis, das nicht ausschließlich für Begeisterung sorgte und erwachsene Zuschauende oft abstieß. Etwa resümierte der "Spiegel" kurz nach der Premiere, dass Kiesbauer durch die Gespräche führe "wie eine Mischung aus Schmetterling und Zappelphilipp: bloß nichts vertiefen, bloß keinen Stillstand. Von einer wie betrunken herumzoomenden Kamera umschwärmt, schneidet die Moderatorin bei jeder sich bietenden Gelegenheit kommentierende Gesichter ins Objektiv."

Tabubrüche und Schmuddeleien

Der Erfolg der Daily Talks war nicht zuletzt darin begründet, dass sie häufig Diskussionen über (vermeintliche) Tabus aufnahmen. Wurde anfangs vor allem über soziale Fragen wie Wohnungsnot, Partnersuche, Schulden, Spielsucht und Diäten debattiert, wichen diese im Laufe der Zeit zunehmend Themen aus den Bereichen Sexualität und Intimität. Waren diese Themen im Jahr 1991 noch vereinzelt zu finden, bestimmten sie laut einer ausgiebigen Analyse im Jahr 1998 etwa zwei Drittel aller Ausstrahlungen. Allein bei RTL betrug demnach die Anzahl der Themen über Privates und Intimes rund 57 Prozent des gesamten Talkprogramms des Kanals in den 90er Jahren. Und das führte zu immer abseitigeren Konstellationen. So traten beispielsweise in einer Episode von „Vera am Mittag“ (Sat.1, um 12.00 Uhr) eine sogenannte Domina und ihr Sklave sowie ein Windelfetischist auf. Solche Ausbrüche brachten dem Genre bald ein negatives Image ein, das allgemein unter dem Schlagwort "Schmuddeltalks" bekannt wurde.

Vera am Mittag © IMAGO / teutopress Vera Int-Veen mit illustrem Gast
Als Gradmesser mussten in der Presse oft die Titel der einzelnen Ausgaben herhalten, die natürlich absichtlich überspitzt und provokant formuliert waren und es daher ein Leichtes war, sich an diesen abzuarbeiten. Aber, sie waren ein fester Bestandteil des damaligen Spiels und ließen oft erahnen, in welche Richtung, sich die jeweilige Runde entwickeln würde. Typische Beispiele dafür waren: "Ich bin Hure und habe ein Kind" ("Bärbel Schäfer"), "Schwanger und Sex, das geht doch gar nicht" ("Vera am Mittag"), "Frauen beraten Nieten im Bett" ("Arabella") oder "Wann kapierst Du endlich, was ich im Bett will?" ("Bärbel Schäfer")

An ihnen war ebenso zu erkennen, dass parallel zur Verschmuddelung die Sendungen in ihrer Ausrichtung konfrontativer gerieten. Ein wichtiger Grund dafür war die Einführung der "Jerry Springer Show" in den USA, die nach anfänglichen Schwierigkeiten und Veränderungen im Ablauf verstärkt auf emotionale Ausbrüche, Wut und übertriebene Gewalt setzte. Das aufgeführte Treiben konnte kaum als Talkshow bezeichnet werden, da der Schwerpunkt nicht mehr auf Gesprächen lag. Stattdessen waren hasserfüllte Anschuldigungen, persönliche Beleidigungen, körperliche Angriffe und Schlägereien zwischen den Gästen an der Tagesordnung.

Jerry Springer Szene © IMAGO / USA TODAY Network Ein ganz normaler "Talk" bei Jerry Springer
Ein Trend, der recht bald auch im deutschen Fernsehen verstärkt zu beobachten war, denn die Redaktionen setzten vermehrt auf lautstarke Streitigkeiten und Konfliktdramaturgie, um angesichts der wachsenden Konkurrenz die Aufmerksamkeitsreize zu erhöhen. In Shows wie "Vera am Mittag", "Bärbel Schäfer" oder "Arabella", die der Autor Matthias Fley als "Trivial-Streit-Talks" charakterisierte, ging es im Kern um "die Vorführung skurriler und extremer ‚Typen‘, die Auseinandersetzung der Gäste untereinander und mit dem Publikum. Unter dem Gelächter und Gejohle des Publikums wurden die Gäste verbal angegriffen, beleidigt und provoziert." Dass etwa bei "Arabella" die Gäste im Unterschied zu den übrigen Formaten auf der Bühne nicht in bequemen Stühlen Platz nahmen, sondern an zwei Tresen standen, trug zur benötigten Anspannung der Gäste für die kalkulierte Eskalation bei.

Die wachsende Nachfrage nach Zank steigerte sich soweit, dass die rheinland-pfälzische Landesmedienanstalt im Jahr 1997 gegen den Kanal Sat.1 wegen der Folge mit dem Titel "Hilfe, mein Kind schlägt mich" aus dem Format "Sonja" (Sat.1, um 13:00 Uhr) ein Bußgeld in Höhe von 100.000 DM verhängte. In der Begründung hieß es dazu: "In der Sendung wurde ein ca. elfjähriges Mädchen als Talkgast von der eigenen Mutter, vom Studiopublikum und auch von der Moderatorin angegriffen und sichtlich in die Enge getrieben."

Vergebliche Regulierung

Im Jahr 1998 sahen sich fast alle Produktionsfirmen mit einer steigenden Anzahl von Abmahnungen und Beanstandungen konfrontiert. Um drohenden staatlichen Eingriffen zu entgehen, einigte sich die Branche auf einen gemeinsamen "Verhaltenskodex". Dieser sogenannte "Code of Conduct" verpflichtete dazu, Maßnahmen zu ergreifen, um extreme Ansichten auszugleichen, Diskriminierungen und vulgäre Sprache zu unterbinden, Eskalationen zu vermeiden und Konflikte stets mit Hinweisen auf mögliche Vorgehensweisen zu lösen.

Das führte anfangs zu einer Entspannung der Situation und einer Züchtigung der Shows, die aber nur kurz anhalten sollte. Im März 1999 hatte die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) schon wieder 23 mögliche Verstöße entdeckt. Entsprechend musste Joachim von Gottberg, der Vorsitzende der FSF, in der Zeitschrift tvdiskurs eingestehen: "Die Umsetzung der Verhaltensgrundsätze hatte offenbar darunter gelitten, daß aufgrund des Konkurrenzverhältnisses jeder die Kriterien nur so lange einhielt, wie dies in der jeweiligen Konkurrenzsendung auch geschah. Scherte eine Talkshow aus und erreichte damit eine positive Quote, zogen die anderen nach."

Frankline © IMAGO / BRIGANI-ART Franklin talkte in Sat.1
Die ausbleibende abschreckende Wirkung des Regelwerks spiegelte sich bald in den obligatorischen Themen wider, die provokanter als je zuvor formuliert waren. So hieß es noch Jahre später bei "Britt – Der Talk um eins" (Sat.1, um 13:00 Uhr) "Schwabbelsex - Seit ich dick bin, geht bei mir die Post ab!" oder bei "Franklin – Deine Chance um 11" (Sat.1, um 11:00 Uhr) "Zahltag - Wir haben gepoppt, jetzt will ich deine Kröten!". Derweil veranstaltete man in der "Oliver Geissen Show" (RTL, um 13:00 Uhr) ein "Sperma-Quiz - Wer ist der Vater von meinem Kind?"

Ein zunehmend beliebtes Vorgehen der Redaktionen war es außerdem, Personen bewusst unter falschem Vorwand einzuladen, um sie unvorbereitet vor laufenden Kameras in eine Konfliktsituation zu bringen, in der Hoffnung, dass sich der Streit hierdurch umso heftiger entladen würde. Von der einstigen Gemütlichkeit des Wohnzimmers von "Je später der Abend" war man inzwischen weit entfernt.

"Birte Karalus" - Krawall und Remmidemmi

Birte Karalus © IMAGO / teutopress Birte "Krawallus" Karalus
Den Tiefpunkt dieser Entwicklung setzte ab 1998 die neue RTL-Show "Birte Karalus" (um 14:00 Uhr), die rückblickend als die härteste Vertreterin des Genres angesehen und wiederholt mit dem Beinamen "Krawallus" beschrieben wurde. "Wir wollten die Zuschauer schocken", gab der damalige Redaktionsleiter Olaf Bautz in einem Gespräch mit Anna Nicole Krumbach-Halbach als Motivation für die neue Reihe an. Das war erneut an den Überschriften der Episoden abzulesen, die hier deutlich vorwurfsvoller klangen: "Hör‘ auf mein Kind zu schlagen!", "Ich hab's satt! Immer schläfst du danach ein.", "Falsche Schlange, du hast mir den Freund ausgespannt" oder "Du Schlampe, du lässt dich ja von jedem Typen schwängern".

Bereits in der zweiten Woche stellte die zuständige Landesmedienanstalt erste Verstöße fest und musste mit Konsequenzen drohen, falls die gerade erst erlassenen freiwilligen Verhaltensgrundsätze weiter nicht eingehalten würden. Konkret wurde beanstandet, dass dort Kinder auftraten, die emotional der veranlassten Konfliktsituationen nicht gewachsen gewesen seien. Sie gerieten nämlich inmitten eines öffentlichen Familienstreits, dessen Auseinandersetzungen auf einem "kommunikativ niedrigem Niveau verliefen und hauptsächlich aus gegenseitigen Vorwürfen und Vorhaltungen bestanden". Die streitenden Personen, die aus einem problembehafteten Umfeld mit Armut oder Alkoholismus stammten, wären nicht in der Lage gewesen, ihre Konflikte positiv zu lösen. Auf diese Weise wäre zudem minderjährigen Zuschauenden ein pessimistisches Bild von zwischenmenschlichen Beziehungen vermittelt worden. Die Redaktion versprach daraufhin, künftig keine Gäste unter 16 Jahren einzuladen und alkoholisierte Personen nicht mehr auftreten zu lassen.

Ricky Harris © IMAGO / United Archives Auch nicht immer mit harmlosen Themen: Ricky Harris
Die Beanstandungen zeigten wenig abschreckende Wirkung. Eher im Gegenteil, solche spektakulären Vorfälle entfalteten eine Sogwirkung, gegen die sich auch die anderen nicht dauerhaft zur Wehr setzen konnten. Von dieser Entwicklung war selbst der brav anmutende "Ricky" (Sat.1, um 14:00 Uhr) nicht verschont geblieben. Eigentlich werden seine Sendungen meist als harmlos und höchstens kurios erinnert. Doch wie nahezu alle seine Konkurrenten lieferte er ebenso einige Momente ab, die von der FSF als problematisch eingestuft wurden. In einer Episode erhielt ein hilfloser sechsjähriger Junge die alleinige Schuld an den Problemen seiner Mutter zugesprochen. In einer anderen, mit dem Titel "Ich wünschte, wir hätten uns nie kennengelernt", waren ein Mann, seine Ex-Freundin und ihr neuer Partner zu Gast. Während der Diskussion provozierten sie sich gegenseitig so sehr, dass die Sicherheitskräfte eingreifen und das Bild ausgeblendet werden musste. Da der Ton anfangs noch weiter übertragen wurde, ließ sich erahnen, welche Handgreiflichkeiten im Studio vor sich gingen. Als sich die Situation weiter verschärfte, musste die Aufzeichnung sogar vollständig unterbrochen werden.

Selbst der Begründer des Genres Hans Meiser, dessen Firma ebenfalls für "Birte Karalus" verantwortlich war, konnte sich dem negativen Trend nicht widersetzen und übernahm zunehmend konfliktschürende Methoden. Das führte letztlich dazu, dass sich der Vorsitzenden des Medienrats der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien (BLM), Klaus Kopka, öffentlich über die Sendung empörte und dabei den fast legendären Satz nutzte: "Was bei Hans Meiser läuft, ist unter aller Sau."

Der Bogen ist überspannt

Auf die Äußerung reagierte Meiser zuerst mit einem öffentlichen Brief, in dem er Kopka "übelste Demagogie" und eine "Instrumentalisierung" seines Amts für "ganz persönliche geschmäcklerische Moralvorstellungen" vorwarf. Wenig später gab er aber im Gespräch mit Harald Keller zu, dass er sich "von diesem Trend ‚immer schneller, immer krasser, immer schräger‘ hab mitziehen lassen". Mit dieser Einsicht war er nicht allein, viele der damaligen Protagonistinnen und Protagonisten äußerten sich später kritisch über ihre damaligen Programme. Birte Karalus gestand in einem Interview mit der "Bild"-Zeitung: "Nie wieder würde ich eine Nachmittags-Talkshow machen. [...] Es gab Augenblicke, da stand ich im Studio und habe mich geschämt. Sinnloser Krawalltalk! Da zog sich mir der Magen zusammen." Ihre Kollegin Arabella Kiesbauer bereute erst kürzlich im Gespräch mit dem "Zeit-Magazin", den Konkurrenzdruck unter den Redaktionen um die spektakulärsten Gäste und Themen mitgemacht zu haben: "Das Prekariat war viel vertreten. Das hat vielleicht auch zu einigen Runden geführt, die unter einem gewissen Niveau waren. Ich würde bei Sendungen im Nachhinein schon sagen: Da sind wir zu weit gegangen."

Bärbel Schäfer © IMAGO / APress Bärbel Schäfer - wollte mit dem Foto wohl auch nicht auf gesittete Gespräche aufmerksam machen
Der initiierte Krawall verhalf einigen Ausgaben zwar zu kurzen Reichweitensteigerungen, das aber war nur ein Strohfeuer. Weil zur Jahrtausendwende zwischen 10 und 17 Uhr mittlerweile 13 Daily Talks nach- und gegeneinander um Beachtung warben, setzte angesichts dieser Übersättigung des Marktes ein spürbarer Rückgang des Interesses ein. Beispielsweise sanken die durchschnittlichen Reichweiten von "Birte Karalus" ab April 1999 von 0,59 Millionen werberelevanten Menschen innerhalb eines Jahres um rund ein Drittel ab. Der Marktanteil von "Andreas Türck" (ProSieben, um 15:00 Uhr) reduzierte sich im gleichen Zeitraum von 26 auf unter 20 Prozent. Die Redaktionen versuchten, das Interesse durch die Thematisierung von persönlichen Beziehungen zwischen Intimpartnern wiederzubeleben, indem sie (scheinbare) Lösungen durch Lügendetektor- oder Vaterschaftstests anboten. Trotzdem konnte dieser Ansatz die Daily Talks nicht dauerhaft retten und mit "Birte Karalus" und "Sabrina" (RTL, um 10:00 Uhr) verschwanden die ersten Vertreterinnen.

Im Glauben das schwindende Interesse der Zuschauenden mit immer spektakuläreren Konfrontationen aufrecht erhalten zu können, waren die Zerwürfnisse in einigen Shows vermehrt von Autorinnen arrangiert und von Laiendarstellern vorgetragen worden. Durch diesen Schritt raubte sich das Genre jedoch seinem Kernversprechen nach Authentizität. Gleichzeitig ebneten sie hierdurch den Weg für Gerichtsshows wie "Richterin Barbara Salesch", die viele der freigewordenen Slots übernahmen. Einen bedeutenden Beitrag leistete hierzu übrigens wieder Hans Meiser, der im Jahr 1999 gleich zwei Mal völlig überzogene Geschichten mit Fake-Gästen inszenierte. Das allerdings ist eine ganz andere Telegeschichte…