Vorurteil der Woche: Dokusoaps sind die neuen Familienserien.
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Vor einem Monat forderte die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung", dass wir im Fernsehen "dringend Familienserien brauchen", damit die vielen psychotischen Polizistinnen und Doppelagenten dort endlich mal ein bisschen Gesellschaft bekommen. Warum werden keine Geschichten erzählt, die sich mit unserem Alltag beschäftigen, fragte Autor Tobias Rüther: "Es wäre nicht nur weniger langweilig, es mal mit einer Familienserie zu versuchen, es wäre so naheliegend."
So naheliegend, dass das Fernsehen es längst schon macht. Nur nicht mehr in der gewohnten Form.
Die Familien heißen nicht mehr wie früher Drombusch, Wichert oder Schumann, sondern: Geiss, Reimann und Wollny. Deren Geschichten sind zwar nicht (oder zumindest: nicht in vollem Umfang) von Autoren ausgedacht. Aber oft so fantastisch, dass niemand sich wagen würde, sie zu erfinden. Die Dokusoap hat die Familienserie gefressen.
Und das ist ja auch kein Wunder, weil die Sender, wie von der FAS beklagt, bei der Entwicklung fiktionaler Stoffe reihenweise versagen. Die modernste Form der klassischen Familienserie, die das Erste vorzuweisen hat, heißt seit zehn Jahren "Familie Dr. Kleist". RTL ist ganz darauf konzentriert, einen Artztserienflop nach dem nächsten durchs Programm zu schleusen. Und das ZDF hat auf dem jahrelang von einem Schimpansen in bunten Hosen warmgehaltenen Sendeplatz am Samstagvorabend gerade versucht, einen Pfarrer in Lederjacke und eine "Familiendetektivin" als zeitgemäß zu verkaufen, indem es ihnen als auffälligstes Modernitätsmerkmal die Alleinerziehung der Kinder angeheftet hat.
Dabei funktionieren die Fernsehfamilien im Jahr 2014 völlig anders, und ausgerechnet der Quatsch- und Krawallsender RTL II hat den Beweis dafür im Programm.
"Die Reimanns" zum Beispiel.

2004 sind die Hamburger nach Texas ausgewandert, haben sich von einem Kamerateam begleiten lassen und sind dem Publikum offensichtlich so sehr ans Herz gewachsen, dass es selbst acht Jahre später noch einschaltet, um Reimanns eine Dreiviertelstunde bei Alltagsgeschichten zuzusehen, die alles andere als aufwändige Dramen sind.
Hausherr Konny baut sich in Sandalen am texanischen Moss Lake ein riesiges Haus mit Leuchtturm, unterbrochen nur durch Besuche im Baumarkt, Brunnenbohrungen und die abendliche Runde Jet-Ski mit dem Hund. Gattin Manu ist glücklich, am Hochzeitstag aus alter Tradition mit der Stretch-Limousine zu Pizza Hut ausgeführt zu werden, so wie damals nach der Hochzeit in Las Vegas. Und die Kinder sind längst erwachsen, kommen aber artig zum Geburtstagfeiern und Familiengrillen vorbei, wenn der Papa hausgemachte Steak-Burger zubereitet.
Mit dem Alltag der deutschen Zuschauer hat das erstmal nichts zu tun – aber vielleicht ist genau das der Trick. Weil Reimanns da in Texas mit einer Zufriedenheit leben, um die man sie beneiden muss. Und es tatsächlich einen gewissen Charme hat, Konny dabei zuzusehen, wie er sich einen seltsamen Traum nach dem nächsten erfüllt: das zum Gästehaus umgebaute Flugzeug im Vorgarten, den Karateladen im nahegelegenen Gainesville, manchmal auch nur die Installation einer Draußendusche.
Bei "Die Geissens" funktioniert die Faszination genau andersherum: Luxusmutter Carmen und ihr "Rooobert" lassen zwar keine Sekunde aus, um zu demonstrieren, wie sehr sie im Reichtum schwimmen. Sie sind aber zugleich ein ganz wunderbares Beispiel dafür, dass Geld alleine auch nicht glücklich macht. Sondern bloß kreativere Probleme.
Als Geissens mit ihren Töchtern nach der Überwinterung in Miami in ihr Domizil nach Monaco zurückkehrt, geht's schon los: "Der Maserati ist der einzige, der heute angesprungen ist!", berichtet die Dame des Hauses dem Kamerateam nach der Fuhrparkinspektion entsetzt. "Kein Personal oben!" Und als ob das nicht genug wäre, hat der Hausmeister beim Rasenmähen des Grundstück in St. Tropez alle Kabel kaputt gemacht und die Fische verhungern lassen!
Robert steckt bereits mittendrin in der Minigolfplatzplanung für die Terrasse und verpackt den halben Hausrat, um ihn auf eine Yacht zu schaffen, die er gerne zur Weltumsegelung kaufen würde, aber auf keinen Fall mit der altmodischen Einrichtung, die jetzt drin steckt!

Alles ist da im Überfluss, aber aus irgendeinem Grund stellt sich beim Zuschauen selten Neid ein, sondern eher: Mitleid. So ist das also, alles zu haben – und gerade deswegen nicht zur Ruhe kommen zu können. Die Millionärsfamilie trägt ihr Schicksal dennoch mit Fassung. Als der Yorkshire Terrier auf dem Flug mit dem Helikopter, der die Familie nach St. Tropez zum Privatjet nach Alicante bringen soll, vor Übelkeit kotzen muss, hat Carmen ihn auf dem Schoß sitzen, hält ihm die Papiertüte vors Maul und berichtet gefasst: "Ich hab zwei Kinder und zwei Hunde großgezogen. Das gehört dazu."
Wie gesagt: Ausdenken kann man sich sowas eigentlich gar nicht.
Nach "Die Geissens" und "Die Reimanns" geht im März bei RTL II auch "Die Hohlbeins" in Serie, eine Dokusoap über Fantasy-Schriftsteller Wolfgang Hohlbein, der er in Neuss für die Familie eine komplette Straße Reihenhäuser gekauft hat, in haufenweise Kitsch und Gerümpel lebt, aber in der Garage den sündhaft teuren Sportwagen stehen hat, um damit einkaufen zu fahren.
Das Prinzip Dokusoap-Familie geht im Fernsehen freilich nur so lange gut, wie sich das vermeintlich echte Leben mit unschönen Wendungen zurückhält. Anders als bei "Die Wollnys", der Großfamilie mit acht Kindern, die bei "TV total" zu erstem Ruhm kam und anschließend ins Hauptprogramm von RTL II, wo sie zusammen durch dick und dünn ging. (Häufiger durch dick.) Im vergangenen Jahr berichtete die Boulevardpresse ausführlich darüber, dass der Vater ausgezogen sei, weil er eine andere Frau kennengelernt habe. Und RTL II musste nachher am Montagabend plötzlich zeigen, wie eine völlig aufgelöste Mutter ihren Kindern beibrachte, dass der Papa erstmal nicht mehr wiederkommt.
Die Profis vom Sender hielten das für den geeigneten Zeitpunkt, um einen Hinweis für ihre Geburtstagsshow einzublenden ("Das muss gefeiert werden").

Das ist halt das Unpraktische an den Protagonisten der neuen deutschen Familien-Dokusoap: Dass sie sich, anders als erfundene Seriencharaktere, manchmal einfach erdreisten, in Abwesenheit der Kamera weiterzuleben, ohne sich dabei Gedanken zu machen, ob das zum Alleinstellungsmerkmal ihrer Fernsehpräsenz passt.
Am vergangenen Montag zeigte RTL II bei "Die Reimanns", wie Konny an seinem 58. Geburtstag vom Kamerateam gefragt wurde, ob er schon an die Rente denke. "Ich glaube, das ist 'ne Geschichte von Leuten, die sagen: So, jetzt bin ich Rentner, jetzt kann ich endlich das tun, was ich sonst nicht konnte", analysierte der Mann mit dem Cowboyohut daraufhin bei der Gartenbewässerung. "Aber das machen wir ja gar nicht. Wir machen das, was wir schon immer machen. Wir warten nicht darauf, dass wir irgendwann mal das Alter erreicht haben, um das zu tun."
Schöner hätte das auch kein Familienserienautor formulieren können.
Das Vorurteil: stimmt.
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