Wer in den vergangenen Wochen deutsche Schlagzeilen zu Serien gelesen hat, konnte den Eindruck bekommen, dass es in der Highschool-Serie "13 Reasons Why" (der deutsche Titel lautet "Tote Mädchen lügen nicht") um Teenager-Suizide geht. Dieser Eindruck täuscht. Ja, die Hauptfigur tötet sich am Ende (nein, das ist kein Spoiler), doch ihr Suizid ist nur die Rahmenhandlung für eine Geschichte, die tiefe Einblicke in das Teenager-Leben in den USA gibt. Erschütternde Einblicke.  

Das Gefühl, dass hier eine relevante Serie auf ein einziges Thema reduziert wird, hat mich dazu bewogen, in dieser Woche über "13 Reasons Why" zu schreiben. Ursprünglich hatte ich das nicht vor, weil ich die Serie erst mit einiger Verzögerung gesehen hatte und dann viele andere spannende Serien-Themen aufkamen. Es geht jetzt auch nicht darum, dass ich das Gefühl habe, hier etwas richtig stellen zu müssen. Sondern: Wer "13 Reasons Why" nur auf die Suizid-Geschichte und die dazugehörige nachvollziehbare Warnung reduziert, verpasst etwas Entscheidendes. Nämlich die Chance, sich mit Themen zu beschäftigen, die für Jugendliche und junge Erwachsene wichtig und prägend sind. Hier wird die Geschichte von Hannah Baker erzählt, die sich selbst tötet und etwas hinterlässt, das viele ihrer Mitschüler und Mitschülerinnnen aufwühlt: 7 Kassetten, auf denen sie 13 Gründe nennt, warum sie sich umgebracht hat. Dazu eine Liste, auf der steht, wer in welcher Reihenfolge die Kassetten hören soll. Durch die Szenen, die Hannah auf den Kassetten erzählt, tauchen wir, das Publikum, in ihr Leben ein und erleben, was sie durchgemacht hat.

Rape-Culture, Slut-Shaming, Victim-Blaming, Cyber-Bullying - darum geht es in der Serie. Und das sind Wörter, für die wir im Deutschen noch keine griffigen Übersetzungen haben. Vielleicht auch, weil die öffentliche Auseinandersetzung mit einer Kultur der sexuellen Objektifizierung von Frauen und Mädchen und das Tolerieren sexualisierter Gewalt, das Verantwortlich-Machen von Opfern (besonders bei Übergriffen auf Frauen) und die digitalen Formen des Mobbings unter Jugendlichen bisher nur in Ansätzen stattfindet. Außerdem zeigt die Serie, wie frauenfeindlich das Umfeld Highschool sein kann. Hinzu kommt ein Thema, das vor allem Erwachsene anspricht: die völlige Ahnungslosigkeit der Eltern. Und zwar ganz unterschiedlicher Eltern-Typen: Eltern, die es gut meinen. Eltern, die sich nicht um ihre Kinder kümmern. Eltern, die abwesend sind. Bei der puren Aufzählung der Themen hat es mich innerlich etwas geschüttelt, "13 Reasons Why" erzählt das natürlich deutlich subtiler. Ich habe erst nach dem Finale eine kleine Liste der Themen gemacht, vorher war ich zu sehr in der erschütternden Geschichte gefangen. 

Manchmal ist die Serie etwas zu pathetisch, manchmal etwas zu dramatisch. Ja, manchmal hat das Drehbuch ein paar Mängel. Und: Die Darstellung des Suizids ist meiner Meinung nach zu krass und zu detailliert - ganz anders als in der Buch-Vorlage, übrigens. (Das war eine bewusste Entscheidung aus einem gewissen Grund, wie Drehbuchautor Nic Sheff in einem Essay für "Vanity Fair" erklärt hat.) Und ja, die Geschichte und die gezeigten Ereignisse sind Fiktion.

Doch all das sollte uns nicht davon abhalten, uns mit dem Inhalt der Serie auseinanderzusetzen. Denn ich möchte mit meinem Text appellieren: Beschäftigen Sie sich mit der Serie! Mein Text soll dafür nur der Einstieg gewesen sein. Wenn Sie sie nicht anschauen wollen, sollten Sie sich zumindest mit Artikeln beschäftigen, die sich mit den drängenden Themen auseinandersetzen, die die Serie anschneidet. 

Ich habe ein paar Texte zusammengetragen, die ich hilfreich fand. Und ich freue mich, wenn Sie in den Kommentaren noch weitere ergänzen.

- Detaillierter aufgeschrieben, worum es in der Serie eigentlich geht: "'13 Reasons Why' isn't really about suicide"

- Bei der österreichischen Zeitung "Standard.at" hat man über die Serie geredet, im Blog "Serienreif":  "Schuldfragen, Mobbing und Teenage Angst: Lasst uns über '13 Reasons Why' reden"

- Warum uns die Serie so nahe geht und hoffentlich zu Diskussionen anregt: "'13 Reasons Why' avoids TV's routine exploitation of dead women by forcing us to care"

- Warum Verbieten nichts bringt und nie etwas gebracht hat: "We need to talk about '13 Reasons Why': The timeless case for getting into uncomfortable conversations about teen crises as seen on TV"

- Was Jugendliche über die Serie denken: "Teens explain what adults don't get about '13 Reasons Why'"

- Wie die Verantwortlichen in amerikanischen Schulen auf die Serie reagieren und welche Folgen bereits jetzt an Schulen zu spüren sind: "School counselors talk Netflix' controversial teen suicide drama"

- Warum Eltern von gefährdeten Jugendlichen besorgt sind: "For families of teens at suicide risk, '13 Reasons Why' raises concern"

- Ich habe keine Kinder im Teenager-Alter, mein Töchterchen ist erst fünf Jahre alt. Ein Alter, in dem ich sicher sein kann, dass sie nicht auf die Idee kommt, die Serie zu gucken. Anders als zum Beispiel Nils Pickerts zwölfjährige Tochter, die die Serie anschauen will, weil Teenie-Star Selena Gomez als Produzentin involviert ist. Er hat für den Schweizer "Tages-Anzeiger" einen Text aus Elternsicht verfasst. Maureen Ryan, Chef-TV-Kritikerin von "Variety", hat ebenfalls aus Elternsicht geschrieben: "'13 Reasons Why': Addressing the controversy as a critic - and as a parent"

Ein wichtiger Hinweis aus gegebenem Anlass: Sollten Sie selbst suizidale Gedanken haben - die Telefonseelsorge bietet anonym und gratis Hilfe an. Sie können die Telefonseelsorge immer, egal ob tags oder nachts, unter 0 800 / 111 0 111 oder 0 800 / 111 0 222 erreichen. Wenn Sie statt reden lieber schreiben wollen: Das geht auch anonym per Mailformular. Außerdem hat die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention eine Liste mit Ansprechpartnern in den einzelnen Bundesländern veröffentlicht.

Und zum Schluss noch ein paar Gucktipps: 

Fortsetzung einer besonderen Comedy: Die zweite Staffel von "Master of None" ist ab 12. Mai bei Netflix verfügbar

Deutsche Serien-Hoffnung: Für seine bisherigen beiden Serien-Eigenproduktionen "Add a Friend" und "Weinberg" hat der Bezahlsender TNT Serie den Grimme-Preis bekommen, jetzt startet mit der Drama-Serie "4 Blocks" die dritte eigene Produktion. Es geht um einen libanesischen Familienclan in Berlin-Neukölln, der vom organisierten Verbrechen lebt. Die ersten beiden Folgen habe ich vorab sehen können - ich fand sie ausgezeichnet erzählt, gefilmt und gespielt. Jetzt freue ich mich auf die restlichen vier. "4 Blocks" läuft ab 8. Mai montags um 21 Uhr bei TNT Serie.

Jetzt zum wirklich Wichtigen: Wo kann man das gucken, über das ich schreibe?

"13 Reasons Why": Nur bei Netflix.

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