Die Autos aller Lehrer werden mit riesigen Penis-Bildern besprüht. Wer kann's gewesen sein? Natürlich nur dieser eine Schüler, der bekannt ist für seine Penis-Kritzeleien auf Wänden, Tafeln und Schulaufsätzen. Ja, das ist der Anfang der amerikanischen Serie "American Vandal". Und ja, auch ich hatte meine Zweifel, ob diese Serie sehenswert oder einfach nur eine riesige Zeitverschwendung voller pubertärer Witzchen ist.

Die schlechte Nachricht: Es gibt wirklich viele pubertäre Witzchen in den 8 Folgen dieser Serie. Die gute Nachricht: Das macht überhaupt nichts. Denn es ist überraschenderweise völlig egal, worum es geht - entscheidend ist die Erzählstruktur dieser True-Crime-Serie. Nach der ersten Episode dachte ich mir noch: "Ja, hm, jetzt habe ich verstanden, worauf sie hinauswollen. Dann kann ich jetzt ja auch ausschalten." Das war ein dummer Gedanke, wie ich feststellte, als ich ein paar Tage später die nächste Folge schaute. Und die nächste. Und die nächsten, bis zum Schluss. Denn: Ich war gefesselt. Gefesselt von der Suche nach dem Schuldigen für diesen dummen Schülerstreich? Ja, tatsächlich. Allerdings nicht, weil mich die Charaktere - Schüler und Lehrer an einer Highschool in Kalifornien - oder die Ereignisse an sich interessierten. Sondern weil das True-Crime-Schema hier bis ins Detail so clever umgesetzt wurde, dass mich - die ich empfänglich bin für True-Crime-Formate - die Geschichte wirklich interessierte.

Es wäre durchaus möglich gewesen, die charakteristischen Elemente des True-Crime-Formats auf die Schippe zu nehmen - zum Beispiel die Kamera besonders wackelig zu führen, den Kommentar besonders dramatisch zu sprechen oder die überraschenden Wendungen besonders absurd zu gestalten (um jetzt mal drei sehr naheliegende zu nennen). Aber die Serien-Erfinder und Executive Producer Dan Perrault und Tony Yacenda haben sich stattdessen den Charakter des Falls vorgeknöpft. Wo andere True-Crime-Produktionen tragische Schicksale aufgreifen, in denen es um Leben oder Tod geht, ist hier der Fall banal: 27 mit Penis-Graffiti verschmierte Autos sind zwar ein beträchtlicher Sachschaden, aber kein Drama. Und auch der Hauptverdächtige sieht anfangs nicht so aus, als wäre es für ihn eine Strafe, von der Schule suspendiert zu werden. Die Geschichte dieses im Vergleich lächerlichen Falls, dieses pubertierenden Verdächtigen wird ernsthaft aufbereitet erzählt. Die Erzähler und Rechercheure sind hier zwei Schüler, die gerne Filmemacher wären und den Dingen auf den Grund gehen wollen. Es wird nichts ausgelassen: die Charakterstudien der möglichen Verdächtigen, die Diskussionen über Motive, Zeitfenster und Tatwerkzeug, das Nachstellen der Ereignisse, unerwünschte Enthüllungen bis zur Bloßstellung, selbst ethische Bedenken werden formuliert. Und ja, natürlich gibt es auch die obligatorische Pinnwand:

Peter Maldonado (Tyler Alvarez, links) und Sam Ecklund (Griffin Gluck) sind diejenigen, die dem Vandalismus an ihrer Highschool nachgehen.

In zwei entscheidenden Punkten weicht "American Vandal" von gängigen True-Crime-Formaten ab. Erstens: Die Geschichte ist ausgedacht. Das ist einfach, sollte man meinen. Nein, ist es nicht. Eine Geschichte so zu erzählen, dass sie nicht wirkt, als sei sie ausgedacht, ist eine hohe Kunst. Gerade wenn es darum geht, ein True-Crime-Format nachzuahmen, dass das Publikum beim Recherchieren mitnimmt. Natürlich unterliegen die guten True-Crime-Geschichten einer ausgefeilten Dramaturgie, doch der Zufall bei der Rercherche spielt eine große Rolle. Und es ist schwer, diesen Zufallsfaktor so nachzuahmen, dass er nicht ausgedacht wirkt. Doch hier ist es tatsächlich gelungen. Ich bin jetzt gerade ein bisschen hin- und hergerissen, ob ich in die Details gehen soll oder nicht. Denn eigentlich möchte ich Ihnen diese Serie ans Herz legen. Und wenn ich "American Vandal" jetzt zu sehr seziere, einzelne Punkte anspreche, die mich überrascht haben oder die ich besonders gut fand, dann entgeht Ihnen dieses Überraschungsmoment. Was sehr schade wäre.

Der zweite Punkt, in dem die Serie von den Formaten abweicht, die sie nachahmt: Es gibt ein echtes Ende. Obwohl nur wenige True-Crime-Formate ein echtes Ende haben, ist es eine gute Entscheidung gewesen, für "American Vandal" ein solches zu schreiben. Trotz der Abweichung von den Ausgangsformaten kann man dadurch mit einem besseren Gefühl aus der Geschichte aussteigen als es bei einem komplett offenen Ende möglich gewesen wäre. In der Realität hätte man nur wenig dagegen tun können, bei einem ausgedachen Format dagegen hätte das unnötig aufgesetzt gewirkt, finde ich. 

Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass ich das Wort Satire in diesem Text nicht verwende - obwohl "American Vandal" bei Netflix und auch in vielen Texten als "True-Crime-Satire" bezeichnet wird. Ich bin mir nämlich nicht sicher, ob die Serie wirklich eine Satire ist. Oder eher: in welche Richtung der satirische Charakter geht. Mir fällt es nämlich schwer zu entscheiden, ob hier wirklich das Format True Crime verächtlich gemacht werden soll. Bin es vielleicht eher ich, die hier verspottet werden soll, weil ich mich sieben Stunden lang mit der Aufklärung dieses banalen Ereignisses beschäftige und bereit bin, per Dokumentation ins Fenster meiner Nachbarn zu schauen? Also sind das Ziel die True-Crime-Gucker, die per Serie in Privatsphären von Menschen eindringen? Oder diejenigen, die sogar soweit gehen, auf eigene Faust zu ermitteln? (Auch dieses Phänomen wird in "American Vandal" aufgegriffen, allerdings relativ kurz.)

Was auf jeden Fall feststeht: Perrault und Yacenda (der übrigens bei allen acht Folgen Regie geführt hat) haben das Genre True Crime bis auf die kleineste Schraube auseinandergenommen und mit Liebe zum Detail gekonnt wieder zusammengesetzt. Netflix hat übrigens am Donnerstag bekanntgegeben, dass es eine zweite Staffel von "American Vandal" geben soll. Ob das eine gute Idee ist? Derzeit bezweifele ich das. Aber ich habe ja auch bezweifelt, dass sich das Weitergucken nach Folge 1 lohnen würde. ;-)

Und zum Schluss noch ein paar Gucktipps: 

Die vierte Staffel von "Transparent" ist ab 3. November bei Amazon Video (Prime) verfügbar. Wer die Serie noch nicht kennt und mehr darüber wissen will: Ich habe im Podcast "Seriendialoge" mit Produzentin Maren Lüthje darüber geredet, denn "Transparent" gehört zu ihren Lieblingsserien.

Nach-Halloween-Grusel: Die sechste Staffel von "American Horror Story" ist ab 1. November bei Netflix zu sehen, "American Horror Story: Roanoke" heißt sie. In den USA läuft noch bis Mitte November Staffel 7, die "American Horror Story: Cult" heißt.  

Jetzt zum wirklich Wichtigen: Wo kann man das gucken, über das ich schreibe?

"American Vandal": Nur bei Netflix.