Dass es oft die Figuren sind, die aus einer durchschnittlichen Serie eine besondere machen, ist eigentlich nichts Neues. Und doch habe ich selten eine Serie gesehen, an der das so deutlich wird wie bei "Goliath". Die Geschichte der ersten Staffel allein betrachtet ist nicht weiter bemerkenswert: Ein abgestürzter Staranwalt nimmt sich eines scheinbar aussichtslosen Falls eines kleinen Bürgers gegen einen Großkonzern an. Der Großkonzern setzt auf eine Großkanzlei und äußerst fiese Methoden, der Ex-Staranwalt kämpft mit seinen bescheidenen Mitteln und deckt auf, dass viel mehr dahintersteckt, als man anfangs dachte. Ebenso ist die zweite Staffel eine bereits mehrfach gesehene Variation des David-gegen-Goliath-Motivs: Der Ex-Staranwalt will einem Mann in Not helfen, Großkonzerne und das Organisierte Verbrechen werden aufgeschreckt, Abgründe offenbaren sich. Und in beiden Staffeln wird nicht vor Klischees haltgemacht - zwei Beispiele, die keine Spoiler sind: der das Tageslicht scheuende Ex-Kanzleipartner des Staranwalts, der noch eine Rechnung mit ihm offen hat oder der brutale Mafia-Boss, der einem blutigen Hobby nachgeht.

Bekannte Erzählmuster, Klischees - da kann es selbst für eine so hochwertig produzierte Serie wie "Goliath" schwierig werden, aus der Masse herauszuragen. Wenn da nicht die Figuren und ihre Schauspieler und Schauspielerinnen wären, die diese Serie zu einer besonderen machen. Auf den ersten Blick scheint die Hauptfigur in "Goliath" auch nichts zu sein, was man nicht schon in verschiedenen Variationen gesehen oder gelesen hat: Auf dem Höhepunkt des Erfolges abgestürzt, dem Alkohol verfallen, verbringt der frühere Staranwalt Billy McBride den größten Teil seiner Tage und Nächte in der Kneipe neben dem Motel, in dem er jetzt lebt. Und trotzdem ist an Billy McBride wenig vorhersehbar. Denn diese Figur hat einerseits interessante Facetten zu bieten, andererseits wird sie von Billy Bob Thornton verkörpert. 

Billy Bob Thornton bringt eine Präsenz auf den Bildschim, wie sie nur ganz wenigen Schauspielern und Schauspielerinnen gelingt. Wenn er ins Bild kommt, schwingt viel mit, ohne dass er etwas sagen oder tun muss. Billy McBride tritt in seiner ersten Szene im strahlenden Sonnschein vor die Tür seinen Motelzimmers, geht die Galerie entlang, nimmt vor dem einen Nachbarzimmer Essensreste mit, vor dem nächsten Zimmer eine Zeitung. Geht die Treppe herunter, auf dem Bürgersteig läuft ein Hund zu ihm, den er streichelt und mit den Essensresten füttert. Vom Motel schimpft jemand hinter ihm her, dass er die Zeitung geklaut habe. Er guckt kurz auf, wirft die Zeitung weg, setzt seinen Weg fort. Öffnet die Tür des nächsten Gebäudes und geht hinein - in eine Kneipe, wie das Publikum dann erfährt. Und - zack - die Figur hat mich neugierig gemacht. Weil Billy McBride hier nicht als traurige Gestalt, die sich langsam totsäuft, präsentiert wird - sondern als eine Person, die zwar schon bessere Zeiten erlebt hat, die aber auch nicht damit hadert, dass jetzt andere Zeiten sind. Als eine Person, die sich arrangiert. Als eine Person, die nicht will, dass ich Mitleid mit ihr habe. Im weiteren Verlauf der ersten Folge erfahre ich viel über die Figur - und freue mich gleichzeitig, dass Billy Bob Thornton sie auf eine Art spielt, wie ich eine solche Figur noch nicht gesehen habe: zurückhaltend, unaufdringlich, manchmal abwesend.  Sein Billy McBride kann schüchtern und in der nächsten Szene verführerisch sein, er kann zerbrechlich wirken und in der nächsten Szene widerstandsfähiger als erwartet, ihm kann alles egal sein und in der nächsten Szene setzt er sich für seine Mitmenschen ein - und doch passt all das zusammen.     

Die Gefahr ist natürlich, dass Billy Bob Thornton als Billy McBride alles dominiert, dass alles andere, was eine Serie eines gewissen Niveaus ausmacht, damit kleiner und unwichtiger wirkt. Doch dadurch, dass die weibliche Hauptfigur ebenbürtig ist - sowohl, was die Figur als auch die Besetzung angeht - überstrahlt Billy Bob Thornton nicht alles. Die Kombination von ihm als McBride mit Nina Arianda als Patty Solis-Papagian macht diese Serie bemerkenswert. Patty Solis-Papagian nervt in ihrer ersten Szene und zwar nicht nur Billy McBride, sondern auch das Publikum. Sie redet laut und viel, will McBride davon überzeugen, dass er ihr bei einem Fall hilft. Sie ist groß, blond, sieht gut aus. Lässt sich nicht viel bieten, ist auffällig, oft mürrisch, laut und kann vulgär sein, wenn es sein muss. Wirkt, als könnte sie nichts einschüchtern, hat aber auch eine andere Seite. Herausragend gespielt von Nina Arianda, die eine ähnliche Präsenz hat wie Billy Bob Thornton. Sie nimmt mit ihrem Spiel viel Raum ein, aber sie spielt die anderen nicht an die Wand, sondern dosiert ihr Spiel so, wie es zu der Figur passt. Leider wird Patty Solis-Papagian in der zweiten Staffel nur zu einer Nebenfigur. Doch es ist wieder eine interessante Frauenfigur, die in der zweiten Staffel die Serie ausbalanciert: Marisol Silva, großartig gespielt von Ana de la Reguera. Dennoch: Ein bisschen mehr Patty hätte der zweiten Staffel gutgetan.

"Goliath" ist bei Amazon (Prime) verfügbar.