Die deutsche Netflix-Serie "Unorthodox" erzählt eine universelle Geschichte, verpackt in ein sehr spezifisches Korsett. Es geht um Befreiung, Loslösung - ein Thema, das jede und jeder im Laufe des Lebens mehrfach unterschiedlich intensiv durchlebt. Doch nur ganz wenige erfahren das Thema in der Ausprägung, wie es die Hauptfigur erlebt: Esty Shapiro (Shira Haas) ist Teil einer ultra-orthodoxen jüdischen Gemeinschaft in New York, deren sehr strenge Regeln ihren Alltag stark einschränken. Möglichkeiten zur Selbstentfaltung hat sie so gut wie keine, selbst die Haarfrisur ist vorgeschrieben.

Ein Teil der Faszination der Serie ist es, einen Einblick in diese tiefgläubige, enge Gemeinschaft zu erhalten, die sogar in ihrer eigenen Religion Außenseiter ist und sich abschottet. Mit einem Glauben konfrontiert zu werden, aus dem Rituale und Regeln abgeleitet werden, die das Verhalten im Alltag und das Zusammenleben von Mann und Frau bis ins kleinste Detail vorschreiben. Doch für die universelle Strahlkraft von Estys Loslösungsprozess spielt es im Grunde keine Rolle, wovon sie sich befreit; welches Korsett es ist, das Esty abstreift.

Es ist die Stärke dieser Serie, dass sie es schafft, beidem gerecht zu werden: Diesem Einblick in eine für fast alle Zuschauer und Zuschauerinnen fremde Welt, ohne diese Welt und ihre Regeln zu verurteilen oder ins Lächerliche zu ziehen. Und dieser Geschichte einer jungen Frau, die aus der Gemeinschaft ausbrechen will, die ihr vorgegebenes Leben verlassen will. Hier den richtigen Ton zu treffen, oder eher: die Balance zu halten, ist nicht leicht. Doch das Team um "Unorthodox"-Macherin Anna Winger hat es geschafft. Was einerseits vor allem an Drehbuch (Anna Winger und Alexa Karolinski nach Vorlage des gleichnamigen Buchs von Deborah Feldman) und Regie (Maria Schrader) liegt, andererseits an der Hauptdarstellerin Shira Haas. Sie trägt Estys Geschichte und die gesamte Serie. Ihre Esty ist zerbrechlich und gleichzeitig zäh, sie fühlt sich zugehörig und gehört doch nicht dazu, sie ist offen und gleichzeitig hält sie etwas zurück, sie ist fröhlich und gleichzeitig ist da diese Traurigkeit zu spüren. Shira Haas gelingt es in den entscheidenen Momenten, mehrere und sich widersprechende Gefühle gleichzeitig zu verkörpern. So wie Shira Haas die Esty spielt, nimmt man es der Figur ab, wie unglaublich schwer es ihr fällt, die Gemeinschaft zu verlassen. Obwohl man als Zuschauerin von außen denkt: "Oh wie schlimm, die Frau musste dringend da raus. Dringend!"

Denn das ist das Besondere an dieser Loslösungsgeschichte: Dass der Hauptfigur zugestanden wird, dass sie nicht schon immer da raus wollte. Und nur irgendjemand aus Versehen den Käfigschlüssel fallen ließ, sie sich ihn schnappte, aufschloss und glücklich davonflatterte. Sondern dass es ein Prozess war. Dass es ihr nicht deswegen schwer fiel, weil sie durch irgendjemanden oder irgendetwas zurückgehalten wurde. Sondern dass es ihr Leben ist, das sie verlässt. Dass es im Grunde auch ihr Glaube ist, den sie verlässt. Wenn sie ihr Leben verlässt, was bleibt ihr dann? Und noch schlimmer für sie: Wenn sie ihren Glauben verlässt, was bleibt ihr dann? 

Es sind nur vier Folgen, aber in denen passiert viel. Estys altes Leben in New York, Estys Flucht, Estys neues Leben in Berlin und die Verfolgung durch ihren Ehemann, der gemeinsam mit einem Cousin vom Rabbi losgeschickt wird, sie zurückzuholen. Es passiert so viel in der für eine Serie kurzen Zeit, dass man meinen könnte, für Zwischentöne bliebe kein Platz. Doch die Zwischentöne, die man braucht, um die vielen gegensätzlichen Gefühle in der jungen Frau zu verstehen, sind da. Manchmal im Dialog und in kurzen Szenen, aber vor allem eben im Spiel der Hauptdarstellerin. Ihre Esty wirkt nicht von dieser Welt und steht doch mit beiden Beinen auf der Erde - genau wie ihre Geschichte, die unwirklich, phasenweise märchenhaft wirkt und trotzdem eine Wucht entfaltet, die man ihr nicht unbedingt zutrauen würde. Eine Wucht, die bis aufs Sofa wirkt und uns so anstiftet, über unser Leben nachzudenken. 

Die Miniserie "Unorthodox" ist bei Netflix verfügbar.