Manche Serien brauchen Zeit zum Reifen. Aber nicht, indem sie in dunklen Kellern aufbewahrt werden und sich Jahre später irgendjemand an sie erinnert und sie hervorkramt. Sondern während sie gesendet werden. Das liest sich wie ein Widerspruch, ist es aber nicht: Diese Serien reifen, während immer wieder neue Folgen, neue Staffeln sogar, entstehen. Der Tonfall findet sich, die Figuren werden greifbarer, die Dialoge pointierter, die Handlung dichter - vielleicht alles auf einmal, vielleicht nur ein oder zwei Dinge davon, vielleicht alles nach und nach. Egal, wie viel und in welcher Reihenfolge: Diese Serien werden besser, je mehr Folgen veröffentlicht werden.

Beispiele gefällig? Über so ziemlich jede "Star Trek"-Serie heißt es: "Joah, die erste Staffel war die schwächste. Aber danach wurde es immer besser." (Das gilt nicht nur für die alten "Star Trek"-Serien, sondern wurde 2020 ähnlich ja auch über den neuen Ableger "Star Trek: Picard" gesagt - als Hoffnung auf die Staffeln, die nach S1 entstehen werden.) Denn ja, wenn man sich zum Beispiel die ersten Episoden von "Star Trek: The Next Generation" anschaut: Das war wirklich unausgegoren. Auf die Spitze getrieben könnte man sagen: Stereotypen, die phasenweise hölzerne Dialoge von sich gaben, während sie im All seltsame Dinge erlebten. Den besonderen Entdecker-Weltanschauer-Spirit, die Tiefgründigkeit, die interessanten Figuren, die überraschenden Lebewesen - all das musste sich erst nach und nach entwickeln. 

Neben "Star Trek" ist das Reifen-müssen-Phänomen bei einigen Comedy-Serien zu beobachten. Bei "Parks and Recreation" ist es sehr auffällig: Die Hauptfigur, Behörden-Vize-Chefin Leslie Knope (Amy Poehler), wirkt in der ersten Staffel vor allem pedantisch, übereifrig und im Umgang mit Menschen ungelenk. Diese drei Charaktereigenschaften kämen auch vor, wenn ich die Leslie der späteren Staffeln beschreiben müsste. Aber eben nicht nur diese drei, sondern außerdem tatkräftig, warmherzig, begeisterungsfähig, mitreißend, kompetent, offen und noch einiges mehr. Ebenso der Humor der Serie: Bis die Witze zündeten, dauerte es bei mir einige Folgen. Das hat einerseits natürlich damit zu tun, dass ich mich in die Serie, ihre Figuren und ihren Humor einfinden musste. Aber bei "Parks and Recreation" ist andererseits gut zu beobachten, wie die Figuren - nicht nur Leslie - über Staffel 1 und 2 ausgearbeiteter, runder werden, mehr Tiefe erhalten. Was nicht notwendigerweise daran liegen muss, dass sie durch mehr Folgen auch mehr Raum bekommen. Sondern auch damit zu tun haben kann, dass sich die Autorinnen und Autoren in die Figuren "reinschreiben" müssen: dass sie die besondere Stimme erst finden müssen, die die Figuren später auszeichnet; dass sie feststellen, dass an der Figur mehr dran ist, als sie anfangs dachten oder als sie ursprünglich angelegt war. Leslie Knope hätte unter Umständen auch in den ersten Folgen schon genug Raum gehabt, um nicht nur diese seltsame Bürokratin zu sein, die mit ihren Ideen und ihrem Übereifer nervt. Doch erst in Staffel zwei wurde aus ihr mehr, sie reifte langsam zu der Figur heran, die diese Workplace-Comedy so besonders gemacht hat.

Als ich vor sieben oder acht Jahren in "Parks and Recreation" eingestiegen bin, war die Serie bereits einige Staffeln alt und ich wusste, dass Menschen, deren Serien-Urteil ich sehr schätze, begeistert davon sind. Daher habe ich der Serie Zeit gegeben, ich habe mich darauf eingelassen, in der Erwartung: Ja, die erste Staffel ist die schwächste, aber danach wird's richtig gut und sogar immer besser.

Kommen wir zu der kanadischen Serie "Schitt's Creek", die ich seit zwei Wochen jeden Abend schaue. "Schitt's Creek" ist 2015 gestartet, dreht sich um die stinkreiche, sehr privilegierte und sehr arrogante Familie Rose, die wegen Steuerbetrugs zu Beginn alles verliert. Das einzige, was ihnen - Vater Johnny (Eugene Levy), Mutter Moira (Catherine O'Hara), die zwei erwachsenen Kinder David (Dan Levy) und Alexis (Annie Murphy) - bleibt, ist ein heruntergekommenes Kaff in der kanadischen Provinz namens Schitt's Creek, das der Vater dem Sohn vor ein paar Jahren als Witz geschenkt hat. Sie ziehen dort ins leicht schmuddelige Motel, leben von nun an von Sozialhilfe und müssen sich mit den Bewohnern und Bewohnerinnen rumschlagen - nach Ansicht der Roses sind sie nun von Hinterwäldern umgeben. Im Frühjahr 2020 lief das Serienfinale in Kanada, zu dem Anlass hat Christian Fahrenbach einen wunderbaren Text für DWDL geschrieben, in dem er die Serie vorstellt.

Ich stieg also in eine abgeschlossene Serie ein, die sechs Staffeln umfasst. Aber ich wusste, genau wie bei "Parks and Recreation", zwei Dinge: Menschen, deren Serien-Urteil ich schätze, sind richtig begeistert, und die erste Staffel ist eher so lala. Und klar, wenig überraschend fremdelte ich in den ersten vier bis fünf Folgen etwas mit der Serie. Die Hauptfiguren waren mir einen Ticken zu unsympathisch und zu überdreht (und dieser seltsame Akzent von Moira ging mir auf die Nerven), die Nebenfiguren einen Ticken zu klischeehaft, die Handlungen wenig überraschend, und die Witze - die Serie ist auf Pointen geschrieben - brachten mich eher selten zum Lachen. Doch da ich genau das erwartet hatte, machte mir das nichts aus. Ich guckte mit meiner "ja, die Serie braucht eben ein bisschen"-Haltung weiter. Einerseits also entspannt, was die Folgen, die jetzt direkt vor mir waren, angeht. Andererseits aber mit hohen Erwartungen für die, die später kommen würden. 

Was als nächstes kommt, ist ebenfalls wenig überraschend: Mittlerweile bin ich begeistert. Und es dauerte noch nicht einmal die ganze erste Staffel, bis ich überzeugt war, dass mir die Serie gefällt. Schon in der zweiten Hälfte von S1 stieg die Lachhäufigkeit meinerseits, und ich entwickelte warme Gefühle für diese Hauptfiguren, die für mich noch wenige Episoden zuvor komplett unzugänglich waren. Mittlerweile bin ich mitten in Staffel 3, lache ausgiebig, suche David-Gifs raus zum gelegentlichen Einsatz auf Twitter und in Chats und freue mich darüber, wie viele tolle "Schitt's Creek"-Folge ich noch vor mir habe.

Doch in das steigende Guckvergnügen hat sich noch ein anderes Gefühl gemischt: Wehmut. Denn das, was ich hier gerade genieße, wäre 2020 nur schwer denkbar. Wenn "Schitt's Creek" in diesem Jahr gestartet wäre, wäre die Serie vermutlich nach nur einer Staffel eingestellt worden. Denn wir sind in einer Zeit, in der Serien knallen müssen. Sie müssen am besten von Anfang an - spätestens aber ab Episode drei -  überzeugen (mit Ausnahme von "Star Trek"-Dingen, natürlich). Zu groß ist die Konkurrenz an Serien, die um unsere Aufmerksamkeit buhlen. Eine Zeit, in der kaum jemand mehr Geduld hat, Serien reifen zu lassen - weder die auftraggebenden Sender oder Streaminganbieter noch das Publikum. Die ohnehin schon hohe Geschwindigkeit, in der die Serienbranche sich entwickelt, ist in den vergangenen Monaten noch gestiegen: durch den Konkurrenzkampf auf dem Streamingmarkt, auf dem es durch die vielen neuen Anbieter noch hektischer geworden ist. Das erhöht den Druck auf die Serienmachenden und die Verantwortlichen bei Sendern und Anbietern - und schürt die Ungeduld des Zuschauers oder der Zuschauerin, die im Hinterkopf immer schon die nächste Serie haben, von der Freunde oder Kolleginnen schwärmen. 

Hätte ich ein frisch gestartetes "Schitt's Creek" vor zwei Wochen angefangen, hätte ich auf keinen Fall entspannt die mittelmäßigen ersten Episoden angeschaut. Ich hätte ungeduldig darauf gewartet, ja gelauert, dass der Funke überspringt. Mit anderen Worten: Spätestens nach Folge 3 hätte ich ausgeschaltet und die Serie für mich abgehakt. Damit wäre ich - den Kritiken und Quoten zu S1 nach zu urteilen - nicht allein gewesen. Das Schicksal von "Schitt's Creek" wäre besiegelt gewesen: absetzen nach Staffel 1. Ich mag es mir gar nicht ausmalen. Welch ein Verlust!

Alle sechs Staffeln von "Schitt's Creek" gibt's in Deutschland bei TVNow (im Premium+-Angebot ist auch die englischsprachige Originalversion enthalten). Die erste Staffel ist außerdem bei Amazon und iTunes verfügbar.