Das Prinzip ist eigentlich gar nicht so kompliziert: Um relevante, gute, unterschiedliche Geschichten zu erzählen, braucht man unterschiedliche Menschen. Heißt andersherum: Wenn immer nur dieselben Typen zusammenhocken und sich Geschichten ausdenken, die später von denselben Typen als Serien umgesetzt werden, kommt im Grunde immer nur dasselbe raus. Manchmal hochwertig erzählt, manchmal schlecht geschrieben - aber im Grunde trotzdem: dieselbe Art Figur, die sich an die Menschen richtet, die so ähnlich ticken wie die Leute, die die Serie gemacht haben. Ja, ich habe das Prinzip hier bewusst einfach aufgeschrieben. Weil ich den Eindruck habe, dass es noch Missverständnisse gibt. Dieses Prinzip ist auf alle Unterschiedlichkeiten anwendbar: Geschlecht, sexuelle Identität, Hautfarbe, sozialer Hintergrund, kultureller Hintergrund, Religion, ja sogar darauf, ob man in der Stadt oder auf dem Land wohnt. Und deutsche Serien sind leider immer noch schlechte Beispiele, was vielfältige Figuren und deren Geschichten angeht.

"Ja, aber wenn die Mehrheit nun mal männlich und weiß und heterosexuell ist ..." könnte jetzt jemand einwenden. Klar, so könnte man denken, aber das Argument greift zu kurz. Erstens: Die Mehrheit ist nicht männlich, sondern weiblich - warum gibt's trotzdem so viel mehr männliche Figuren in deutschen Serien? Zweitens: Nur weil die Mehrheit in Deutschland weiß und heterosexuell ist, rechtfertigt das nicht, dass die Geschichten von Menschen mit anderen Hautfarben und anderen sexuellen Identitäten so gut wie nicht stattfinden. Denn sie sind Teil der deutschen Gesellschaft und damit auch für die Mehrheit relevant (selbst wenn die Mehrheit das gerne ignoriert) - sie sind die Nachbarn und Nachbarinnen, die Kolleginnen und Kollegen, die Lehrerin, der Zahnarzt, die Anwältin, der Heizungsinstallateur, die Friseurin, der Verkäufer an der Supermarktkasse, die Busfahrerin. Und natürlich ist es für die Minderheit wichtig, abgebildet zu werden, als Teil der Gesellschaft wahrgenommen zu werden, zu sehen, dass die eigenen Geschichten etwas zählen. (Warum das besonders in Bezug auf Rassismus in Deutschland entscheidend ist, habe ich Ende Februar in meiner Kolumne ausführlich erklärt.) Drittens: Wer nur Geschichten von männlichen, weißen, heterosexuellen Figuren erzählt, stößt irgendwann an erzählerische Grenzen. Für mich sind diese Grenzen längst erreicht. Mein Serienkonsum der vergangenen Monate zeigt mir: Für männliche, weiße, heterosexuelle Hauptfiguren kann ich mich nur noch schwer begeistern. Ich will ungewöhnliche Figuren, die mich faszinieren. Gerne auch in Welten, die ich bisher nicht kenne.

Die Lösung ist übrigens nicht, dieselben Typen, die vorher Geschichten männlicher, weißer Hauptfiguren erzählt haben, andere Figuren und deren Geschichten schreiben zu lassen. In manchen Fällen mag das gutgehen. Aber in den meisten Fällen nicht. Das merkt man zum Beispiel daran, dass die Figuren klischeehafte Charakterzüge tragen, sich unpassend ausdrücken oder die Handlungen sich nicht von dem unterscheiden, was eine männliche, weiße, heterosexuelle Figur erlebt hätte. Weil nämlich diese vermeintlich erfahrenen Serienschreiber, die die Figuren entwickeln und Geschichten erzählen, nur einen eingeschränkten und für diese anderen Geschichten nicht passenden Erfahrungshorizont haben.

Ein besonders schmerzhaftes Beispiel: der Umgang mit dem Thema Vergewaltigung. Dieses zutiefst traumatisierende Erlebnis wird in Serien und Filmen noch immer zu oft dazu eingesetzt, Charaktereigenschaften oder Motivationen für Handlungsentscheidungen zu erklären. Um es ganz deutlich zu sagen: Es wird als Instrument genutzt, um Figuren zu erklären oder um die Geschichte voranzutreiben. Dieser Umgang mit dem Thema ist haarsträubend, abwertend und verharmlosend. (Im Zusammenhang mit der Serie "Unbelievable" hatte ich 2019 darüber geschrieben, interessant ist außerdem dieser Text von Nhi Le bei "jetzt".) Meine These: Wenn Frauen bereits seit Jahrzehnten selbstverständlich genauso stark am Serienmachen beteiligt wären wie Männer, hätte sich dieser problematische Umgang mit dem Thema gar nicht erst entwickelt. 

Und bitte jetzt bloß nicht mit dem Argument kommen: Aber es gibt doch nur wenige weibliche/queere/Schwarze Serienautor*innen, die richtig gut sind. Denn das ist kein Argument! Sondern das Grundproblem, das gelöst werden muss. Jahrzehntelang haben immer nur dieselben Typen vorrangig die Menschen engagiert oder gefördert, die ihnen ähnlich sind. Ist es dann ein Wunder, dass es so wenige nicht-männliche, nicht-weiße, nicht-heterosexuelle Serienmachende gibt? Wenn doch jahrzehntelang das Signal an all diese war: Hier ist kein Platz für euch. 

Warum erzähle ich das alles? Weil vergangene Woche eine Studie veröffentlicht wurde, die den deutschen Serienverantwortlichen erneut zeigt, dass sie einiges aufzuholen haben: "Geschlechterdarstellungen und Diversität in Streaming- und SVOD-Angeboten", erhoben unter der Leitung von Professorin Elizabeth Prommer am Institut für Medienforschung der Universität Rostock. Knapp 200 Serien wurden untersucht, insgesamt knapp 400 Folgen analysiert, alles in allem mehr als 1900 Hauptfiguren unter die Lupe genommen. (Die wichtigsten Ergebnisse und anschauliche Grafiken gibt's hier.) Die neue Studie nun legt dar, dass Streamingserien dem restlichen Fernsehen zwar voraus sind - allerdings viel weniger, als das wünschenswert wäre, wie DWDL-Chefredakteur Thomas Lückerath in seiner Analyse mit dem treffenden Titel "Ein bisschen besser ist nicht gut genug" geschrieben hat. Mehr noch: Die Studie zeigt auch sehr deutlich, dass deutsche Streamingserien in Sachen Diversität noch längst nicht so weit sind wie Streamingserien aus anderen Ländern. So beträgt der Frauenanteil in zentralen Rollen in deutschen Produktionen gerade mal 35 Prozent, in europäischen Produktionen (ohne D) 42 Prozent, in nordamerikanischen Produktionen 43 Prozent.

Noch ein Beispiel: "In deutschen Produktionen sind 89 Prozent der zentralen Rollen 'weiß' besetzt, keine ist als Schwarz oder asiatisch zu lesen, 11 Prozent können dem Mittleren Osten zugerechnet werden", lautet ein weiteres Ergebnis. Bei europäischen Produktionen (ohne D) sehen die Zahlen anders aus: 83 Prozent weiß, 6 Prozent Schwarz, 7 Prozent Latino/Latina, 4 Prozent aus dem Mittleren Osten. Und bei nordamerikanischen: 75 Prozent weiße Figuren, 12 Prozent Schwarze Figuren, 8 Prozent Latino/Latina, 1 Prozent südasiatisch, 3 Prozent asiatisch, unter 1 Prozent aus dem Mittleren Osten. (Mehr Details finden sich in diesem pdf-Dokument zur Studie.)

Diese und auch die anderen Ergebnisse der Studie überraschen all diejenigen nicht, die - wie ich - die Entwicklungen in Serien beobachten und einen guten Marktüberblick haben. Aber es hilft natürlich, statt von anekdotischer Evidenz nun von einer empirischen Evidenz sprechen zu können. Also: Zahlen zu haben und damit zu argumentieren. Diese Studie ist ja nicht die erste ihrer Art - dass es mit der ausgewogenen Darstellung der Geschlechter und Minderheiten im deutschen Fernsehen nicht weit her ist, hat bereits 2017 die Studie "Audiovisuelle Diversität? Geschlechterdarstellungen in Film und Fernsehen in Deutschland" gezeigt. 

© Netflix Die Hauptfiguren von "GLOW" im Ring: Ruth Wilder (unten, Alison Brie) und Debby Eagan (Betty Gilpin)

Der Untersuchungszeitraum der Streaming-Studie geht von Januar 2012 bis Juni 2019. Durch Covid hat sich die Serienbranche seitdem viel schneller entwickelt, als zu erwarten war - auch in Sachen Diversität. In den USA geht man derzeit davon aus, dass nun tatsächlich der Gipfel des Serienbooms erreicht ist (der schon seit fünf Jahren immer wieder prognostiziert wird). In den vergangenen Monaten sind reihenweise US-Serien eingestellt worden. Auffällig viele davon sind Serien mit weiblichen und/oder queeren Hauptfiguren, nicht nur bei Netflix, sondern insgesamt in der US-Serienbranche. Dass es für die Netflix-Serie "GLOW" nicht weitergeht, obwohl bereits eine Folge der vierten Staffel fast abgedreht war, ist im Covid-Zusammenhang verständlich: Eine Serie über Wrestlerinnen ist extrem aufwändig und teuer umzusetzen, wenn man die Gesundheit der Schauspielerinnen nicht gefährden will. Das war es Netflix nicht wert. Und so wurde die Serie eingestellt, obwohl alle Fans bereits auf die angekündigte vierte Staffel warteten.

Doch für viele andere Serien wie "I Am Not Okay With This" oder "On Becoming A God In Central Florida" oder "Stumptown" gilt dieses Kontaktsport-Problem nicht (weitere Beispiele finden sich in dieser Liste von "Entertainment Weekly"). Es wirkt so, als verabschiede man sich gerade nach und nach von solchen Produktionen, mit denen Streamingdienste seit einigen Jahren für Aufsehen und Begeisterung gesorgt haben, weil sie nämlich Geschichten von Menschen marginalisierter Gruppen erzählen, die bis dahin nur selten im fiktionalen Fernsehen zu sehen waren. Vor allem: Ungewöhnliche Frauengeschichten, geschrieben und produziert von Frauen. Alan Sepinwall, Serien-Kritiker des "Rolling Stone" prognostiziert in einer lesenswerten Analyse sogar, dass es von nun an - auch wenn die Pandemie vorüber ist - Minderheiten-Geschichten schwer haben werden. Was dann bleibt: bekannte Figurentypen in Serien, die nach bewährten Mustern gestrickt sind. Hoffentlich irrt Sepinwall. Denn Rückschritte in Sachen Diversität treffen einerseits die marginalisierten Gruppen und andererseits die Gesellschaft als Ganzes.