Marcella Backland (Anna Friel) ist eine Frau, die der Kinder wegen ihren Beruf aufgegeben hat. Mehrere Jahre ist sie zu Hause geblieben, hat sich um die Familie gekümmert. Doch dann passieren diese brutalen Morde, die an einen früheren Fall von ihr erinnern - und sie ist wieder das, was sie eigentlich immer war: eine Ermittlerin, wie es keine zweite gibt. Was nicht nur an ihren außergewöhnlichen Fähigkeiten als Polizistin liegt, sondern an dem, was ihre Persönlichkeit ausmacht. Denn was auf ihre Entscheidung zur Rückkehr in den Job folgt, sind nicht etwa Konflikte um Vereinbarkeit von Job und Familie. Sondern zwischenmenschliche und psychische Probleme, die ich niemandem wünschen würde. 

Die britische Krimi-Serie "Marcella" hat der schwedische Drehbuchautor Hans Rosenfeldt gemeinsam mit der Drehbuchautorin Nicola Larder entwickelt. Rosenfeldts bisher bekannteste Serie: die dänisch-schwedische Produktion "Die Brücke" mit Ermittlerin Saga Norén (Sofia Helin) im Mittelpunkt. Und so ist es kein Wunder, dass in "Marcella" eine gute Prise "Die Brücke" steckt. Es gab ja bereits einige Versuche, die Besonderheit der skandinavischen Nordic-Noir-Serie auf andere Serien zu übertragen.  Das amerikanische Remake "The Bridge" zum Beispiel, die britisch-französische Produktion "The Tunnel" oder die hervorragende deutsch-österreichische Serie "Der Pass" - mal wurde mehr, mal weniger vom Original direkt übernommen. 

Bis mir klar wird, wie viel "Marcella" und "Die Brücke" - außer der düsteren Tonalität, die alle Serien des Genres Nordic Noir ausmacht - gemeinsam haben, dauert es ein paar Folgen. Doch dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen: "Marcella" ist die Fortentwicklung von "Die Brücke". Das ist einerseits großartig (ich bin großer Fan der Figur Saga Norén), andererseits bringt es in der ersten Staffel einige Probleme mit sich. 

Zuerst das Großartige: Als "Die Brücke" startete, war Saga Norén einzigartig. Eine so ungewöhnliche Ermittlerin als Hauptfigur in einer aufwändig produzierten Krimi-Serie hatte es bis dahin nicht gegeben. In den ersten beiden Staffeln spielt die Besonderheit der Hauptfigur allerdings keine so große Rolle, die abscheulichen Verbrechen, die sie aufzuklären hat, stehen im Mittelpunkt. Das verschiebt sich in Staffel 3 und 4 - allerdings bleiben nach wie vor die Verbrechen das Wichtigste, die Charakterstudie nimmt zwar mehr Raum ein, ist aber weiterhin Nebensache. So gut ich "Die Brücke" fand: Noch mehr über Saga Norén hätte mich durchaus interessiert. Ihre Serienmörder-Fälle waren spannend, keine Frage. Aber wirklich fesselnd war die Hauptfigur. (Ein ausführlicher Kolumnentext von mir zu Saga Norén findet sich hier.) In "Marcella" ist das anders: die ungewöhnliche Ermittlerin Marcella Backland steht im Mittelpunkt. Als hervorragende Polizistin, als Frau mit gravierenden psychischen Problemen, als Ehefrau in Trennung, als Mutter mit einer schwierigen Beziehung zu ihren zwei fast pubertierenden Kindern. Sie ist hart gegen sich selbst, hat hohe Erwartungen an alle Menschen um sich herum, ist erschüttert, wenn sie selbst diese Erwartungen nicht erfüllen kann. Sie ist brutal, rücksichtslos, nur in wenigen Situationen mitfühlend. Und sie verzweifelt an sich selbst. Im Grunde ist sie ein emotionales Wrack, ohne Aussicht auf Besserung. All das zusammengenommen ergibt eine faszinierende Mischung, aus der wiederum eine höchst spannende Geschichte entsteht. 

Nun zum Problem: In der ersten Staffel kommt der Eindruck auf, hier wird achtlos mit Mordopfern umgegangen. Es sind so viele, sie bekommen wenig Raum. Irgendwann ist es schwer, als Zuschauerin auseinanderzuhalten, welches Opfer wann wo umgebracht wurde. Besonders bitter: Es sind (fast) alles Frauen. Und Krimi-Produktionen weltweit haben seit Jahrzehnten ein Problem im Umgang mit Gewalt an Frauen, weil sich tendenziell auf Täter-Geschichten konzentriert wurde und wird, die weiblichen Opfer oft nur als Mittel zum Erzählzweck genutzt wurden und werden. Erst beim Nachdenken über die erste Staffel wird mir klar, warum der Eindruck entstanden ist: Weil das Hauptaugenmerk des Drehbuchs hier - anders als in "Die Brücke" - auf der Figur Marcella Backland lag.

In Staffel 2 ist es viel besser gelungen, Marcellas haarsträubende Geschichte mit den Verbrechen zu verweben, in Staffel 3 ebenfalls - was daran liegt, dass die Figur entscheidende Entwicklungen durchmacht, die dieses Verweben einfacher machen. Die dritte Staffel ist im Juni veröffentlicht worden, ob es eine vierte Staffel geben wird, ist bisher nicht bekannt. Ich hoffe es, denn Marcella Backland ist eine besondere Ermittlerin, von der ich sehr gerne mehr sehen möchte. Bisher lagen zwischen den Veröffentlichungen immer zwei Jahre. In diesem Sinne: Hope to see you in 2022, Marcella!

Alle drei Staffeln von "Marcella" sind bei Netflix verfügbar.