Diese Telegeschichte beginnt am 10. Mai 1996 auf dem Alexanderplatz in Berlin. Auf den südwestlichen Stufen des Fernsehturms ist eine kleine Bühne aufgebaut, auf der Moderator Marcel Obua und seine Kollegin unter anderem den Bundestagsabgeordneten Thomas Krüger begrüßen. Dieser ist in Berlin nicht nur bekannt, weil er einmal Jugendsenator war, sondern auch, weil er im Wahlkampf 1994 unter dem Motto „Eine ehrliche Haut“ nackt auf seinen Wahlplakaten posierte. Damit gewann er seinen damaligen Wahlkreis Friedrichshain/Lichtenberg zwar nicht, schaffte es aber über die SPD-Landesliste dennoch in den Bundestag. Vor der Bühne haben sich einige hundert Menschen versammelt. Sie stehen zwischen den Wasserkaskaden und wegen der vielen Stufen der Freitreppe in einiger Entfernung herum. Richtige Stimmung will nicht aufkommen. Die traurige Szenerie erinnert an ein provinzielles Stadtfest. Da hilft es auch nicht, dass sich Krüger versucht, bei den Jugendlichen anzubiedern, indem er stolz verkündet, die Band „East 17“ zu kennen. Das Moderationsduo geht drauf nur kurz ein, stattdessen weisen sie auf den eigentlichen Stargast der Veranstaltung hin. Das Techno-Sternchen Blümchen. Hinter ihnen sind auf einer profanen Lkw-Plane die Worte „puls tv“ zu lesen. Das nämlich ist der neue Name des Lokalsenders, der hier seinen großen Relaunch feiert.

Bisher kannte man den kleinen Kanal unter dem Namen „IA“. Er war im Jahr 1993 mit großen Ambitionen gestartet. Sogenanntes Ballungsraumfernsehen galt damals noch als eine lukrative Idee, um neue regionale Werbemärkte zu erschließen. Für das Autohaus um die Ecke, den örtlichen Supermarkt oder den heimischen Möbelmarkt. Beliebt war die Idee ebenso bei lokalen Politiker:innen, die ja im nationalen Fernsehen meist wenig Sendezeit erhielten. IA hatte sich zum Ziel gesetzt, das Lokalfernsehen nach amerikanischem Vorbild profitabel zu machen und konnte dafür sogar den US-Medienkonzern Time Warner als Investor gewinnen.

IA Logo © IA Das Logo des damaligen Senders IA
Doch die Rechnung ging nicht auf. Zwar konnte das Programm von potenziell sechs Millionen Menschen in Berlin und Brandenburg auf einer reichweitenstarken Frequenz empfangen werden, lukrativ wurde es trotzdem nicht. Die jährlichen Kosten von 25 Millionen DM für die regionale Berichterstattung konnten nie durch genügend Werbepartner refinanziert werden. Damit blieb für das restliche Programm zu wenig Geld übrig, das sich dadurch aus uralten Filmen und Serien zusammensetzen musste. Und zu übermächtig waren die öffentlich-rechtlichen Anstalten SFB und ORB mit ihren regionalen Nachrichten.

In der Folge wurde der Umfang der Eigenproduktionen bei IA immer weiter zurückgefahren. Das Team musste vermehrt auf Mitarbeitende mit wenig Erfahrung setzen, was sich letztlich auf die Qualität der Beiträge spürbar auswirkte. Irgendwann kursierten sogar interne Hausmitteilungen, die das Kollegium zum sparsamen Umgang mit Toilettenspülung, Heizung und Licht aufforderte. Es half alles nichts. Der Betrieb blieb defizitär und IA ein großes Verlustgeschäft.

IA Nachrichten © IA Das Nachrichtenstudio des Lokalsenders IA.

Vergleichbare Projekte wurden auch in Hamburg (als „Hamburg 1“) und München (als „TV.München“) gestartet und hatten dort mit ähnlichen Problemen zu kämpfen. In Hamburg konnte zumindest ein Teil der Kosten durch die Abgabe von Sendezeit an SuperRTL refinanziert werden. Den Berliner Kanal sollte dagegen eine Neuausrichtung retten. Mit dieser wollte man sich künftig vor allem an eine junge, urbane Zielgruppe richten und nicht mehr an ein Publikum jenseits der 50. Dafür musste ein neuer Name her, denn die bisherige Bezeichnung IA (sprich: Eins A) bezog sich noch auf das alte Autokennzeichen, das Berlin bis 1945 trug.

Jetzt also „puls tv“. Für einen Sender, der pulsieren will. Der den Puls der Stadt fühlen will. Dafür gibt es ein neues, streng getaktetes Sendeschema, noch mehr lokale Nachrichten aus den einzelnen Bezirken, ein durchaus modernes On-Air-Design, ein beeindruckendes Nachrichtenstudio mit dem Brandenburger Tor im Hintergrund und ein Jugendmagazin mit Radiostar Rob Green. Und mit Blümchen, die um Punkt 18.00 Uhr den symbolischen Buzzer drücken darf, der lieblos auf einem schmucklosen Stehtisch liegt. Bevor sie damit die erste Ausgabe der neuen Nachrichtensendung „puls schlag 6“ startet, werden erst noch drei traurige Feuerwerksfontänen gezündet, die einsam vor der Bühne sprühen. Dann beginnt endlich das neue Fernsehen für Berlin und Brandenburg.

Viel Glück brachte Blümchen dem Unternehmen offenbar nicht. Nur ein Jahr später musste puls tv Insolvenz anmelden. Nach einigem Hin und Her übernahm im Jahr 1997 schließlich Thomas Kirch den Sender und benannte ihn in TV.Berlin um. Kirch, der ein Sohn des mächtigen Medienunternehmers Leo Kirch war, betrieb mit TV.München schon ein anderes lokales Programm und konnte nun beide Häuser gemeinsam vermarkten. Etwas später übernahm Vater Leo Kirch noch die Mehrheit an Hamburg 1, sodass jetzt drei wichtige Ballungsraumsender in der Hand der Familie Kirch lagen.

Um die drei Firmen möglichst effizient betreiben zu können, erhielten sie zunächst mit Christian Böhmer einen gemeinsamen Geschäftsführer. Er arbeitete eng mit Fred Kogel zusammen. Kogel hatte ab Mitte der 90er-Jahre als Programmgeschäftsführer den Sender Sat.1 auf den Kopf gestellt und war inzwischen in der KirchMedia für die Formatentwicklung zuständig. Zugleich hatte er innerhalb der Holding auch die Verantwortung für das Ballungsraum-TV übernommen. Die beiden setzten eine gemeinsame nationale Vermarktung der Sender durch die Kirch-Tochter SevenOne Media durch, um künftig Großkunden jenseits von Autohäusern und Möbelmärkten anlocken zu können. Außerdem versuchten sie, weitere kleine Funkhäuser für diesen Weg zu gewinnen. Mit Hessen-TV und tv.nrw standen sie dafür bereits in konkreten Verhandlungen.

Die Sonne geht auf

Gleichzeitig wollte man am Programm ansetzen, um die Sender auch außerhalb der Regionalnachrichten attraktiv zu machen. Altbackene Serien wie „Bonanza“ oder „Ein Bayer auf Rügen“ sollten verschwinden und abermals durch Filme und Shows für ein jüngeres Publikum ersetzt werden. Dazu sollte diesmal ein gemeinsames Mantelprogramm installiert werden, das von allen Sendern zusammen finanziert und untereinander ausgetauscht wird.

Hier kam der Fernsehproduzent und Regisseur Oliver Mielke mit seiner Firma Entertainment Factory ins Spiel, der das Vorhaben quasi im Alleingang umsetzen wollte. Mielke hatte seine Karriere bei der Musiksendung „Formel Eins“ begonnen und war dann zwischen 1995 und 1997 zum Unterhaltungschef von ProSieben aufgestiegen, wo er unter anderem die von ihm hergestellte „Bullyparade“ auf den Bildschirm brachte. Es folgte die Realisation einiger Comedy-Reihen und zahlreicher Formate für MTV. Kurz vor der Beauftragung seiner Firma mit dem Mantelprogramm war die Kirch-Gruppe in seinem Unternehmen noch schnell mit 25 Prozent eingestiegen. So blieb auch hier gewissermaßen alles in der Familie.

Am 23. April 2001 begann die Modernisierung der Sender mit der Einführung „neuer, frischer Formate“, die fortan zwischen 21.00 Uhr und Mitternacht auf allen drei Stationen zu sehen waren. Die „regionale Prime Time“ zwischen 17.00 und 20.00 Uhr wollte man in der ersten Ausbaustufe noch unangetastet lassen. Deren Überarbeitung stand erst für den kommenden Herbst an. Die neue Programmschiene erhielt mit „Sun-TV“ einen eigenständigen Namen, ein eigenes Senderlogo - nämlich eine strahlende Sonne - und ein eigenes On-Air-Design in moderner Online-Optik.

Geiz ist geil

Wichtigste Vorgabe für den Auftrag war, dass die Inhalte trotz geteilter Produktionskosten so billig wie möglich sein mussten. Schließlich machten TV.München, TV.Berlin und Hamburg 1 zusammen einen Verlust von rund 100 Millionen DM pro Jahr und die Kirch-Gruppe war nicht bereit, noch mehr Geld zu verbrennen. Während herkömmliche Comedy-Produktionen zwischen 8.000 und 15.000 DM pro Minute kosteten, drückte Mielke die Ausgaben für seine Formate so weit nach unten, dass er auf Budgets von unter 2.000 DM pro Minute kam. Das war möglich, weil die meisten aus dem eigenen Studio in einer Stadtvilla in München-Pullach kamen und dort mit billigster Ausstattung auskommen mussten. Das sah man ihnen auch an. Die Shows waren geprägt von „Schnäppchenmarkt-Deko, Studios so groß wie Abstellkammern, kaum Außendrehs“ (Zitat aus der „Berliner Zeitung“). Weitere Anteile entstanden in Berlin, Zürich und Hamburg durch Subunternehmen.

Diese Strategie hatte Mielke ursprünglich für den Sender tm3 entwickelt, den die KirchMedia nach wochenlangem Tauziehen eigentlich von Rupert Murdoch übernehmen und billig in einen internetbasierten Unterhaltungssender umwandeln wollte. Stattdessen stieg der Verkaufssender H.O.T. bei tm3 ein, was schlussendlich zum Umbau des ehemalige Frauen- und Champions-League-Kanals zur Gewinnspielhölle 9Live führte.

Boning, Balder und Barbara

Insgesamt lieferte Mielke mit seiner Factory 16 Formate an die Ballungsraumsender, die trotz der günstigen Preise fast ausnahmslos mit bekannten Gesichtern aufwarten konnten. Darunter auch Wigald Boning, der nach dem Ende von „RTL Samstag Nacht“ und einem kurzen Intermezzo in der „ProSieben Morningshow“ erstmals wieder regelmäßig im Fernsehen zu sehen war. In seiner neuen Sendung „WIB-Schaukel“, deren Titel an die legendäre Reihe von Margret Dünser („VIP-Schaukel“) erinnerte, begleitete er Prominente einen Tag lang mit der Kamera und verwickelte sie in mal alberne, mal überraschende, mal unerwartet intime Gespräche.

Wigald Boning © IMAGO / Sven Simon Wigald Boning erhielt für die "WIB-Schaukel" sogar den Grimme-Preis.

Boning war auch Teil von „Das TV-Quartett“, das natürlich an berühmte „Literarische Quartett“ angelehnt war. Anstelle von Büchern wurden darin allerdings aktuelle TV-Formate besprochen und kritisiert. Die Diskussionen, an denen neben Boning noch Roland Baisch, Hugo Egon Balder und Hella von Sinnen teilnahmen, gerieten zuweilen erstaunlich reflektiert und kritisch. Vor allem Fernsehproduzent Balder konnte durch seine Erfahrungen und Kontakte oft profundes Insiderwissen einbringen. Warum sie ihre Gespräche in einer (billigen) Weltraumkulisse und in unvorteilhaften Raumanzügen führten, blieb bis zum Schluss unbeantwortet. Die größte Schwäche des Konzepts lag darin, dass aus Kostengründen über die jeweiligen Sendungen nur gesprochen werden konnte und keine illustrierenden Ausschnitte vorlagen. Dadurch geriet manche Debatte nur schwer nachvollziehbar.

Das eigentliche Highlight im Portfolio von Sun-TV war zweifellos die Reihe „Blondes Gift“ mit Barbara Schöneberger. Die Moderatorin hatte sich zuvor als Assistentin bei „Bube, Dame, Hörig“ einen Namen gemacht, moderierte dann kleinere Formate und Talkshows und führte schließlich Anfang 2001 durch die fragwürdige Container-Show „Girlscamp“. Ihr nächstes Engagement brachte sie jetzt in das winzige Studio in Pullach, in dessen Hintergrund sich wöchentlich wechselnde Frauen im Meerjungfrauenkostüm in einem Aquarium rekelten. Vor dieser Kulisse testete sie dann den Blondfaktor ihrer prominenten Gäste mit abgedrehten Fragen und launigen Partyspielen. Dabei war sie sich für keine noch so bizarre Aktion zu schade und glänzte mit viel Selbstironie und Spontanität. Zum festen Bestandteil des Ablaufs gehörten zudem Einspieler der sogenannten „Insider“, die oft aus dem Umfeld des Besuchs kamen und einige Intimitäten offenbarten.

Ähnlich ging der Schauspieler und MTV-Moderator Max von Thun in seiner Sendung „Club Max“ vor. Auch er testete seine Gäste mit lustigen Spielen, Gesangsproben oder schrägen Aktionen. Allerdings ermittelte er nicht ihren Blondfaktor, er führte mit ihnen stattdessen eine Aufnahmeprüfung in seinen namensgebenden Club durch. Zum Repertoire gehörten außerdem eine „Versteckte Kamera“-Show mit Radiolegende Thommy Wosch („Woschs Woche“), ein Filmmagazin namens „Stripes“ sowie ein Kulturmagazin „EigenARTig“ - beide moderiert von der ehemaligen Talkmasterin Sabrina Staubitz - und die Musikshow „Was geht?“ mit dem MTV-Gesicht Gerd Bischof.

Trotz aller Einschränkungen und sichtlich knapper Budgets entwickelten viele der Sendungen einen eigenen Charme. Es machte einfach Spaß, ihnen zuzuschauen - gerade, weil sie so unprätentiös daherkamen. Eine willkommene Abwechslung zum Hochglanz-TV der großen Sender.

Große und kleine Geschäfte

Trotzdem wollte auch diese neue Strategie nicht zünden. Obwohl mittlerweile tv.nrw das Mantelprogramm von Sun-TV übernommen hatte und sich schon acht Sender im nationalen Vermarktungssystem zusammengeschlossen hatten, gelang es SevenOne Media selten, genügend Spots für die geplanten Werbeinseln zu verkaufen. Dadurch mussten die Lücken regelmäßig mit Passanten-Interviews gefüllt werden. Diese erzählten dann darin ihren Lieblingswitz oder erklärten, warum sie gerne fernsahen. Am skurrilsten war das Pausen-Spiel, bei dem geschätzt werden musste, welche von drei Kühen als erste einen Haufen absetzte. Die Auflösung erfolgte stets mit Videobeweis.

Damit nicht genug, im Frühjahr 2002 geriet die Kirch-Gruppe ins Schlingern und musste Insolvenz anmelden. Das hatte unmittelbare Auswirkungen auf die Ballungsraumsender, die weiterhin nur Geld verschlangen. Als erste Amtshandlung verhängten Insolvenzverwalter Wolfgang van Betteray und Fred Kogel im April 2002 kurzerhand einen generellen Produktions-Stopp für alle Sendungen. Für die Entertainment Factory und Mielke war dieser Schritt fatal, denn die Aufträge rund um Sun-TV machten etwa 95 Prozent des gesamten Umsatzes aus. Ein Drittel der Beschäftigten verloren daraufhin ihren Job, viele Künstler:innen mussten vertröstet werden. Um zu verhindern, dass die Firma ebenso in die Insolvenz geriet, erließ Mielke der KirchMedia die ausstehenden Rechnungen für die letzten beiden Produktionsjahre. Im Gegenzug erhielt er dafür deren 25-prozentige Beteiligung zurück. Damit hatte er zwar die volle Kontrolle über sein Unternehmen wieder, aber vorerst kaum noch Aufträge.

Totgesagte leben länger

Die letzte Hoffnung lag darin, zumindest einen Teil der Shows bei anderen Sendern unterzubringen. Und tatsächlich konnte schon eine Woche später verkündet werden, dass das ZDF die „WIB-Schaukel“ übernehmen und zunächst zehn neue Folgen drehen lassen wollte. Diese wurden dann ab dem 13. September 2002 freitags ab 0.50 Uhr ausgestrahlt. Auch „Blondes Gift“ fand schnell einen neuen Abnehmer. Hier schlug der Westdeutsche Rundfunk zu und gab neue Ausgaben mit Barbara Schöneberger in Auftrag, die ab August 2002 samstags ab 23:15 Uhr im WDR Fernsehen liefen. Für die anderen Ideen fand sich keine Heimat. Aber immerhin, die beiden Deals sicherten der Entertainment Factory die weitere Existenz.

Die „WIB-Schaukel“ lief bis Juni 2004 im ZDF und wurde dann endgültig eingestellt. Kurz zuvor hatte Boning für sein Gespräch mit Jürgen Drews noch einen Grimme-Preis erhalten. Nachdem der WDR die Talkshow „Bondes Gift“ Ende 2003 nicht mehr fortsetzen wollte, schenkte ihr ProSieben ein drittes Leben - diesmal am Montagabend gegen 23.15 Uhr. Optisch und inhaltlich wurde die Sendung nicht verändert und kam weiter so liebevoll trashig daher wie bisher. Dort konnte sie sich bis August 2005 halten, bevor sie final zu Grabe getragen wurde. 

Die Ballungsraumsender TV.Berlin und Hamburg 1 senden übrigens noch heute, haben allerdings mehrere Eigentümerwechsel hinter sich. Hierbei ist insbesondere TV.Berlin auf inhaltliche Abwege geraten. TV.München musste seinen Betrieb derweil im Juni 2005 einstellen, nachdem die Bayerische Landeszentrale für neue Medien die zugehörige Lizenz entzogen hatte.

Inwieweit das „TV-Quartett“ bereits für den Neustart von tm3 vorgesehen war, ist nicht bekannt. Mitdiskutant Hugo Egon Balder hat es nach dem Ende von Sun-TV dennoch dorthin verschlagen, denn ab April 2002 moderierte er den sehr skurrilen „9Live Tanzmarathon“. Das allerdings ist eine ganz andere Telegeschichte… die hier erzählt wird.