Familie Kanzler
Wo Robert Atzorn mit großen Schritten das Kanzleramt betritt, in sein Telefon brüllt und in den Aufzug jagt, beginnt das große Spektakel "Kanzleramt". In Beton und Glas prangt die "Waschmaschine" als Orientierungspunkt, mal frontal von der Paul-Löbe-Allee, mal mit dem Helikopter aus der Luft abgefilmt. Ein massiges Gebäude, das seinem ersten Hausherrn Gerhard Schröder zunächst nicht gefiel. Ein Protzbau der gerade ausgerufenen Berliner Republik. Eine Frage der Zeit, dass sich das Fernsehen dieses mächtigen Motivs annimmt. Nun lässt das ZDF den Zuschauer in die Zimmer vordringen, vor denen Phoenix Halt machen muss. Der schieren Größe und Wucht des Kanzleramts in seinem Blick über das Berliner Regierungsviertel zu widerstehen, ist schwer. Dem Versuch, "die Tür zum Kanzleramt einen Spalt zu öffnen" (Autor Martin E. Süskind), folgt man in der gespannten Erwartung, wie man sich konkret hereindenkt bei Jakobsfilm (Edel&Starck): In die Berliner Republik, Abteilung Menschen.
Im Opener wird der Zuschauer mit den Protagonisten der Machtzentrale bekannt gemacht. Unser Lehrer Dr. Specht ist jetzt also Kanzleramtschef, und den Bundeskanzler selbst haben die Autoren kurzerhand ins Zielgruppenalter 49 geschrieben und zu unserem bisher jüngsten Regierungschef gemacht. Klaus J. Behrendt macht sich besser bei "Wetten, dass...?" als sein Widergänger in der Realität. Einen Amtsbesuch in Australien inklusive Wirbelsturm übersteht er mit perfektem Teint. Gegen Ende der ersten Folge kehrt er in seinen Amtssitz zurück. Dort wimmelt es von, so fahren wir fort in der Logik der Serie, menschlichen Problemen, die sich in den vorangegangenen Minuten rasch aufeinandergehäuft haben: Der verzweifelte Forschungsminister (großartig: Vadim Glowna) verliert nachhaltig die Nerven; die neue Leiterin der außenpolitischen Abteilung (charmant: Claudia Michelsen) baut an ihrem ersten Arbeitstag gleich einen Verkehrsunfall. Zu allem Überfluss machen ein paar Peruaner auch noch Revolution und entführen deutsche Touristen. Gegen so viel Arbeit ist jeder "Tatort" ein Spaziergang, gegen den Kanzler hat Kommissar Ballauf einen langweiligen Job.
Bei einem Bundeskanzler, der uns in Pressekonferenzen seine Lieblings-Currybude vorstellt und Ministern, die man auch mal auf dem Fahrrad Unter den Linden beobachtet, glaubt man eigentlich, nah dran zu sein an einer realen Politiksoap, die täglich von Phoenix übertragen wird. Mit einem wahlweise Fernseh- oder Medienkanzler gibt man sich gerne der Illusion hin, sehr nah dran zu sein an den Entscheidungsprozessen, wie sie uns das "Kanzleramt" nochmal neu erklären will. Dabei sorgt die Suche nach den tatsächlichen Schnittmengen mit Zeitgeschichte für Spannung, wie die Analogie des Falles des ZDF-Forschungsministers Harmsen zu Helmut Kohls Forschungsminister Ortleb, der wegen familiärer- und Alkoholprobleme 1994 zurücktreten musste.
Die Macher von "Kanzleramt", allen voran Martin E. Süskind, entstammen in erster Linie jenem Pulk von Politjournalisten, die ein berufsmäßiges Interesse daran haben, soweit wie möglich in die Vier-Augen-Gespräche und vertraulichen Sitzungen von Entscheidungsträgern vorzudringen. Süskind war unter anderem Bonn-Korrespondent der Süddeutschen und Chefredakteur der Berliner Zeitung. Dort war es sein Job, zwischen den Erklärungsvarianten der Pressesprecher und seinem besonderen Wissen zu vermitteln. Zum zweiten Mal verlässt Süskind, nachdem er zweeinhalb Jahre Reden für Willy Brandt geschrieben hat, jetzt die direkte Berichterstattung. Es hätte sich also kaum ein geeignterer Autor finden können, der eine fiktionale Aufarbeitung der bisher 6 Jahre Berliner Republik hätte gestalten können. Darin liegt die besondere Stärke von "Kanzleramt": Ähnlich dem amerikanischen Vorbildformat "West Wing" verlieren die Macher in der "Serienwerdung" der Figuren, die sie selber aus ihrer Arbeit kennen, nicht den Blick für die Verhältnismäßigkeiten.
Bei aller Serientauglichkeit: "Außer Kontrolle" überzeugt mit präzisen Figuren und einem straffen, spannenden Handlungsstrang. Bei aller Überzeichnung und Vermenschlichung: Mit der Realitätsnähe der Serie verhält es sich tatsächlich wie bei einem Blick durchs Schlüsselloch. Von Anfang an ist klar, dass wir nicht alles sehen. Aber den Bewegungen, denen wir im Zimmer folgen, dürfen wir das nachempfinden, was dort wirklich passiert. Die Realität: Irgendwo zwischen "Tagesschau" und "Kanzleramt".