Bild: NDR/Jörg GrönitzIrgendwo in Dänemark, auf dem Balkon eines herrschaftlichen Landhauses, in festen, roten Ledersesseln, sitzen zwei ergraute Männer, der eine mehr, der andere weniger in den Falten langer Berufsjahre, einer wacher, der andere gedankenverkateter, hier ein Grande des Fernsehens, dort ein Großer des Literatur-, nein Kulturbetriebs.

Die Begegnung von Ulrich Wickert und Günter Grass hätte eine ganz andere werden sollen: Ein wärmendes Plaudern, beredtes Wichtig- und Wachsamsein, stolzes Zitieren. GG, der Literaturnobelpreisträger als Gast der ersten Sendung von "Wickerts Bücher" hätte den würdigen Opener bilden sollen für ein spätabendliches Rendezvous, irgendwo zwischen publikumstauglicher literarischer Diskussion und Wickert'schem Savoir Vivre - als ein Geschenk der ARD an ihren besten Mann.

Aber "Beim Häuten der Zwiebel" wurden dem Geladenen, werden Günter Grass' Lesern mehr flüchtige Schwefelverbindungen frei, als die noch die größte Heulsuse des Kulturbetriebs erhofft oder befürchtet haben kann. Vor der Sendung scheint eine Instanz zusammengebrochen zu sein, hat eine hungrige Meute zweit- und drittklassiger Feuilletonisten das Denkmal des großen Grass niederzuschreiben versucht, die Fallhöhe abgemessen und jede Rehabilitierung auszuschließen versucht. Laut Henryk M. Broder hat Grass seinen Platz in der "Hall Of Shame" bereits inne, ohne dass der für eine Antwort auf alle Frontalangriffe der schreibenden Zunft auch nur Luft geholt hätte.

Günter Grass atmet jetzt schwer, der Pfeifenraucher, die Augen hinter den lupenhaft vergrößernden Gläsern seiner Brille wirken müde. Hier also soll seine Antwort erfolgen - im Fernsehen, angemessen der Halbwertszeit des Themas, angemessen seiner Relevanz: Hier schauen Menschen zu, die nie ein Buch von ihm gelesen haben, die nun aber kräftig und hörbar, manchmal zu laut nachdenken über seine biografischen Pole Waffen-SS und Literaturnobelpreis, weil sie an seinem Nachkriegsdeutschland Teil hatten. Über Grass' Rolle in ihrem Nachkriegsdeutschland, das er attackiert, beackert und bearbeitet hat, mit dem er "mehr Demokratie wagen" wollte, dessen gutes Gewissen er zu sein schien: Hier schauen SPD-Wähler zu, denen er ein Wortgeber war, ein Bürgertum, dass seine Wachsamkeit adaptierte. Zu dieser Sendezeit in der ARD schaut sein Publikum zu. Eines, das verzeihen könnte. Das kein Interesse an seiner Vernichtung hat.

Bild: NDR/Jörg GrönitzUlrich Wickert wirkt konzentriert, es ist nicht sein erstes Interview stante pede. Dieser Wickert lässt kein Trommeln zu, kein Lavieren, das ist seine Profession. Er ist der ideale Talkmaster für Gast Grass. Man will sich nicht vorstellen, was wäre wenn etwa Reinhold Beckmann ihn bekommen hätte, sich gewollt in ihn vertiefend seine Lesebrille auf die Nasenspitze geschoben und den Singsang angesetzt hätte. Wickerts Stimme ist ein freundliches Räuspern. Warum? Warum erst jetzt? Er scheut sich nicht, die Frage zu wiederholen, an vielen Punkten, immer unaufgeregt. Der Autor darf zitieren, spielen, flüchten, und mit ihm bleibt die Frage im Raum.

Günter Grass ist, in allen Blättern und Formaten, für alle Leser und Kritiker, ein Angeklagter geworden. Bloßes Product Placement werden manche in diesem Auftritt sehen. Angst vorm Auffliegen sahen andere in seinen Enthüllungen. Den Grundzusammenhang, dass Günter Grass seine Autobiografie geschrieben hat, ein per se zeitgeschichtlich bedeutsames Werk, dass er darin berichtet von einer von Kriegssog genommenen Jugend als 17-jähriger Junge, verkennen sie. Deshalb besteht er nun auf dem Recht, das er als Angeklagter hat: Zu schweigen zu dem, was blass scheint, ein Raum wird in seinem Buch, ein Raum, der dem Leser gehört. Wickert treibt ihn nicht dorthin, in die über alles erhabene Ratlosigkeit, aber er lässt ihn gewähren. Er fragt, ohne den gedanklichen Punkt des Autoren zu verwischen. Man spürt, dass Ulrich Wickert Günter Grass in seinem Vorhaben unterstützen will, seine Erinnerungen, sein Buch zu schützen.

Sanfte Schnitte lassen vom Profil des alten Grass auf den Beistelltisch blicken, auf dem es liegt, sie blenden von seinem gegerbten Gesicht auf den großen Garten vor dem Haus. Der Sommer hat viel Hitze gebracht, doch hier, irgendwo in Dänemark, haben zwei Männer ihre Haltung bewahrt.