Frau Wappler Hagen, was können wir in Deutschland aus dem Schweizer "No Billag"-Votum lernen?

Dass die Schweizerinnen und Schweizer radikale, unausgegorene Ideen mit großer Mehrheit abgelehnt haben, ist eine vernünftige Entscheidung. Interessant finde ich den Kontrapunkt zur neoliberalen Tendenz nach dem Motto "Ich bezahle nur das, was ich selbst nutze". Diesen vermeintlichen Freiheitsaspekt betonen ja auch manche Stimmen hierzulande. Da hat uns die Diskussion in der Schweiz gezeigt: Freiheit kann eben auch die Freiheit sein, sich bewusst für ein solidarisches System zu entscheiden. Zudem ist die Medienkompetenz in den letzten Monaten um 200 Prozent gestiegen. Sie konnten fast jeden in der Schweiz darauf ansprechen, weil man sich aktiv damit befasst hat.

Das ist in Deutschland noch anders. Kommt die Eskalation bei uns, wenn eine Erhöhung des Rundfunkbeitrags ab 2021 beschlossen wird?

In Deutschland ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk von der Verfassung stärker geschützt als in der Schweiz. Dennoch ist davon auszugehen, dass sich vor allem die Diskussion über die Höhe des Beitrags noch zuspitzen wird. Dabei wäre es wünschenswert, dass wir darüber sprechen, was uns dieser Rundfunk wert ist – und nicht nur, wie viel wir dafür bezahlen. Wir müssen einen breiten Diskurs darüber führen, was der solidarisch finanzierte Rundfunk für unsere Gesellschaft bedeutet.

Leichter gesagt als getan, wenn beide Seiten vor allem übers Geld reden.

Was in der Schweiz irgendwann im Laufe der Diskussion funktioniert hat, ist, dass sich verschiedenste gesellschaftliche Gruppen klar positioniert haben. Dadurch wurde für jedermann sichtbar, welch vielfältige Kreativ- und Kulturlandschaft direkt oder indirekt vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk abhängt. Wenn man sich nur mal die Vielzahl der Aufträge an Autoren, Regisseure, Produzenten, Musiker oder Techniker vor Augen führt, wird schnell die Bedeutung für die Wertschöpfung eines Landes klar, gerade auch für viele kleinere und mittlere Unternehmen.

Sie würden sich eine solche öffentliche Solidarisierung auch in Deutschland wünschen?

Ja, durchaus. Je nachdem wie gerade der Wind weht, fassen manche dieser Gruppen die Öffentlich-Rechtlichen nur mit spitzen Fingern an. Ich finde aber, wir sollten diese Diskussion ehrlich führen. Und dazu gehört auch, dass die Kultur- und Unterhaltungsindustrie einen wesentlichen Teil ihrer ökonomischen Wertschöpfung durch Aufträge der Öffentlich-Rechtlichen erzielt. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Ich will unsere Verantwortung nicht auf andere abschieben. Wenn wir es nicht schaffen, uns zu öffnen, uns selbstkritisch zu überprüfen und unserem Publikum auf Augenhöhe zu begegnen, dann haben wir auch keine Solidaritätsadressen verdient. Meine SRG-Kollegin Ladina Heimgartner hat völlig richtig gesagt: Wenn die Leute uns als zu groß und zu arrogant empfinden, dann haben wir ein Problem, nicht die Leute.

Dieses Problem scheint im Osten besonders ausgeprägt. Nicht umsonst gibt es hier klare Landtagsmehrheiten gegen eine Beitragserhöhung.

Bei unseren systeminternen Debatten habe ich gelegentlich das Gefühl, wir stecken noch so ein bisschen in den alten westdeutschen Diskursen der 80er Jahre fest, obwohl die Wiedervereinigung jetzt fast 30 Jahre her ist. Als zugewanderte Schweizerin bin ich in Ost-West-Fragen ja erstmal neutral. Allerdings möchte ich meinen Kollegen in den westdeutschen Rundfunkanstalten manchmal zurufen: Habt ihr eigentlich eine Ahnung, wie diese fünf Bundesländer ticken und was hier los ist? Sonst würdet ihr nämlich in der Themenauswahl der bundesweiten Programme ein paar andere Schlaglichter setzen! Wir müssen dringend für mehr echten Austausch und für eine ernsthafte überregionale Verankerung ostdeutscher Stimmen und Belange sorgen. Und wir sollten unser Bewusstsein dafür schärfen, dass im Osten jenseits von Reichsbürgern, Pegida und AfD auch eine ganze Menge Positives los ist. Diese gemeinschaftliche Aufgabe sollte uns allen am Herzen liegen – nicht zuletzt, um extremen Stimmen weniger Angriffsfläche zu bieten.

"Meinen westdeutschen Kollegen möchte ich manchmal zurufen: Habt ihr eigentlich eine Ahnung, wie diese fünf Bundesländer ticken und was hier los ist?"

Nathalie Wappler Hagen, MDR-Programmdirektorin in Halle

 

Da haben ARD und ZDF offensichtlich Nachholbedarf.

Das müssen wir selbstkritisch hinterfragen. Ich möchte nochmal den Bogen zur Schweiz spannen. Die "No Billag"-Diskussion kam ja vor allem aus der Deutschschweiz heraus. Da hatte man mitunter das Gefühl, die Aktivisten würden sich am liebsten von der Romandie oder vom Tessin trennen. In der SRG ist man eigentlich permanent bemüht, diesen sogenannten Röstigraben zu überwinden. Allein wegen der Mehrsprachigkeit hat man etwa in Konferenzen eine ganz andere Grundhaltung. Da spricht jeder seine Muttersprache und man bemüht sich ständig, den anderen richtig zu verstehen. Die sprachliche Ebene wirkt sich auf die gedankliche Offenheit aus. Ein bisschen davon würde ich mir auch zwischen West und Ost in Deutschland wünschen.

Was würden Sie noch von der SRG übernehmen? Künftig gibt es dort die Selbstverpflichtung, dass mindestens 50 Prozent der Gebührengelder in Informationsprogramme fließen. Wäre eine solche Festlegung für bestimmte Genres auch bei ARD und ZDF sinnvoll?

Damit nimmt die Schweiz tatsächlich eine Schärfung des "Service public"-Begriffs vor: Im Vordergrund steht das, was privatwirtschaftliche Veranstalter nicht anbieten – eine klarere inhaltliche Abgrenzung also. Das Instrument der Quote hat eben nicht geholfen. Zwar erzielt das SRF-Programm gerade am Hauptabend hohe Reichweiten. Aber wenn die Gleichung hohe Quote gleich hohe Akzeptanz stimmen würde, hätte es die ganze "No Billag"-Diskussion ja gar nicht geben dürfen. Also muss man sich doch überlegen: Was heißt "Service public" heute? Da ist es sicher kein schlechter Weg, gezielt die Meinungsvielfalt und Wertebildung zu fördern mit Programmen, die die Privaten nicht herstellen können, weil sie sich nicht am Markt refinanzieren lassen. Das heißt ja nicht, dass man deshalb den ganzen Tag "Telekolleg" senden muss. (lacht)