Das Untergeschoss der menschlichen Seele könnte furchterregender kaum sein. Ein modriger Dunst kriecht durchs feuchtkalte Souterrain unserer Ängste. Rostige Gitter verbauen den Weg in dunkle Zellen, die abgesehen von Holzpritschen nur Folterstühle von schauriger Überzeugungskraft enthalten. Wer hier drin ist, will schnell wieder raus – zumindest, sofern sein Wille nicht längst gebrochen ist. Wie so oft, an diesem Seitenstrang der Zivilisation. "Im Narrenkeller sind die schlimm Verrückten gelandet", erzählt Verena Wagner von einer Epoche, die 130 Jahre her ist oder nur ein paar Tage – je nach Perspektive.

Im spätbarocken Invalidovna am Rande der Prager Altstadt wurden schließlich einst echte Menschen – obgleich nicht selten krank statt gesund – therapiert. Doch wie die muntere Szenenbildnerin an einem verregneten Frühlingstag durchs heillos heruntergekommene Krankenhaus führt, präsentiert sie kein architektonisches Relikt, sondern den Drehort eines aufsehenerregenden Serienereignisses: "Freud". Wenn auch einen komplett anderen als den legendären Erfinder der Psychoanalyse mit Rauschebart und Skeptikerblick.

Unter Marvin Krens Regie entsteht nämlich gerade ein Biopic, das der neue Stern am Streaminghimmel partout nicht Biopic nennen will: Weil es den Porträtierten als kokssüchtigen Berufsanfänger im Dunstkreis einer fiktiven Verschwörung zeigt; weil es die Uferpromenade des Mainstream allem Anschein nach auch sonst in verwilderte Seitenarme des modernden Fernsehens verlässt; weil die deutschsprachige Koproduktion von Netflix und ORF damit weit tiefer ins Unterbewusste vordringt, als es Fans des kultisch verehrten Österreichers lieb sein dürfte. Und das zeigt sich nirgends besser als in der Klinikruine.

Freud-Drehort in Prag

Hier am Rande von Prag entsteht derzeit die Serie "Freud"Seit ihn die angrenzende Moldau 2002 geflutet hat, steht der opulente Nachbau des Pariser Invalidendoms leer – es sei denn, Tschechiens Hauptstadt liefert wie so oft die Kulissen internationaler Historienformate. Und so ist Marvin Kren mit seinem hundertköpfigen Tross Filmschaffender aus Wien, Berlin und aller Welt nach Prag gereist, um hier den Großteil der 85 Drehtage zu verbringen, rund ein Viertel davon im stadiongroßen Kubus, Baujahr 1731. "Das Haus ist der Wahnsinn", schwärmt Verena Wagner mehrfach in schönstem Wiener Schmäh, als sie ausgewählte Medien durch die klosterartigen Kreuzgewölbe führt. Für die Inszenierung des Alltags einer Nervenheilanstalt anno 1885 sehen die drei Obergeschosse fast zu verwittert aus, "das ist historisch nicht ganz korrekt", räumt sie lachend ein. Weil blätternder Putz auf löchrigem Mauerwerk indes atmosphärischer (und billiger) sei als künstliche Kulissen, "halten wir diesen Widerspruch aus".

Und so offenbart sich besonders im Keller ein faszinierendes Aroma zwischen "Game of Thrones" und "Saw". Die Pfützen am nackten Steinboden könnten durchaus von einer der zeitgenössisch rüden Wassertorturen herrühren, mit denen Marvin Kren die Frühphase seelischer Heilkunde unter Tage nachstellen ließ. Nüchtern betrachtet aber sind es bloß Regenreste im löchrigen Gemäuer, also ähnlich real wie der feuchte Geruch und das fahle Licht, in dem ein nachgebauter Zwingstuhl mit Gitterhelm noch gruseliger wirkt. Zwei Stockwerke höher dagegen, mit Blick auf den wunderbar verwilderten Innenhof, musste Wagners Team mehr intervenieren, um geschichtliche Genauigkeit zu erzielen.

Wenn der – selbst daheim in Österreich – noch relativ unbekannte Robert Finster dort am 73. Drehtag als Sigmund Freud aufs – historisch nicht verbürgte – Medium Fleur Salomé (Ella Rumpf) trifft, haben die Ausstatter demnach Schwerstarbeit geleistet. Statisten in Leinenkitteln tänzeln irre durch züchtig gekleidete Krankenschwestern und gravitätisch schlendernde Mediziner hindurch, als Marvin Kren ungewohnt ernst sechs Versionen von Szene 2-54 anleitet. Doch gleich nachdem er "Super, danke, Hammer, hui" durch den endlosen Gang gerufen hat, kehrt das jungenhafte Lachen ins Gesicht des Schöpfers von "4 Blocks" zurück. "Wir brauchen selbst im Keller kaum mal künstliches Licht", feiert er den Drehort. Schließlich sei hier alles organisch, irgendwie authentisch, bis zur kaputtesten Kachel glaubhaft. Von wegen Widerspruch.

Sein Kostümbilder Max Wohlkönig, Herr über gut 3.000 teils detailversessene Outfits, geht sogar etwas weiter: "Mir ist das hier manchmal noch zu sauber", sagt er über die Kulisse der unechten Zwei-Millionen-Stadt, deren reales Vorbild Ende des 19. Jahrhunderts noch viel verwahrloster aussah. Den Dreck abertausender Kohleöfen und Fabrikschlöte habe man damals "Wiener Braun" genannt. Und das findet sich in Wohlkönigs Reich auf jedem Kittel, jeder Robe, selbst im Fell eines künstlichen Stierkopfs, der kunstblutverschmiert neben einer Nähmaschine für spontane Reparaturarbeiten steht.

Freud

Markus Nestroy, Marvin Kren und Robert Finster am Set von "Freud"Einen Gang weiter geht Superstar Rainer Bock grad im angeklebten Rauschebart von Freuds wahrhaftigem Mentor Theodor Meynert durch eine Wand aus Kunstnebel zur nächsten Einstellung einer Produktion, die im vergleichsweise kleinen Filmland Österreich Dimensionen sprengt. "Über Geld reden wir nicht", bittet ORF-Fernsehspielchefin Katharina Schenk am spektakulären Set um Verständnis. "Aber wir hatten bislang keine Serie, die international weiter verbreitet werden wird". Und das liegt auch am Titelhelden, den Heinrich Ambrosch von der Wiener Satel Filmproduktion, die gemeinsam mit Bavaria Fiction produziert, ähnlich wie den Zweitverwerter Netflix als "Disruptor" bezeichnet. Beide hätten ja etwas erfunden, "das die Welt im Kleinen umwälzt."

Der Streamingdienst ein Fernsehen, dass mehr wagt als bloß Biopics. Mit einer Hauptfigur, die im Keller unserer Ängste genauso zuhause ist wie einst auf den Kanapees der Wiener Haute Volee. Im Invalidendom, hat er ab Frühjahr 2020 ein feuchtkaltes, schaurig schönes, furchteinflößendes Zuhause, das beim ARD/ZDF-Historytainment gewiss aussähe wie frisch renoviert. Hier reicht dafür echtes Sonnenlicht auf blätterndem Putz einer Originalkulisse. Dem Störer des gewohnten Ganges Sigmund Freud wird das vermutlich weit gerechter.