Im Vorgarten einer beschaulichen Villa im Berliner Stadtteil Zehlendorf geht Regisseurin Isabel Braak mit ihrer Hauptdarstellerin Inez Bjørg David die nächste Szene durch. Sie wolle einen kurzen "awkward moment" sehen, lautet das Kommando, das die Schauspielerin sogleich mit einer Auswahl an leicht pikierten Seitenblicken befolgt. In ihrer Rolle namens Lisa ist sie gerade hin- und hergerissen zwischen der Freude, ihren Sohn Eddie wiederzusehen, den ihr Ex-Mann Martin vorbeibringt, und dem wiederholten Stich ins Mutterherz, den Eddies Abneigung gegenüber ihrem neuen Lebenspartner Patrick (Lucas Prisor) auslöst.

Während die beiden Kameramänner mit ihren ausladenden Steadycams den zügigsten Weg vom Bürgersteig in den Vorgarten proben, fährt Steve Windolf, der Martin spielt, mit dem Fahrrad die Straße auf und ab. Im Schlepptau ist der 11-jährige Fillin Mayer alias Eddie. Dem wird es nach der dritten Runde zu langweilig, nur auf dem Gepäckträger zu sitzen. Kurzerhand stellt er sich drauf und krallt sich während der Fahrt an seinem TV-Vater fest. "Ist das ungefährlich?", fragt Isabel Braak den Regieassistenten und nickt die spontane Änderung ab. Vier Takes und ebenso viele kurzfristige Straßensperrungen später ist die Szene im Kasten.

Die Sequenz aus dem chaotischen Familienleben von Lisa und Patrick dürfte Anhängern der schwedischen Serie "Bonus Family" bekannt vorkommen. Mit der Geschichte eines Paars und seines komplizierten Patchwork-Gefüges hat die Dramedy, die außerhalb Skandinaviens bei Netflix läuft (in Deutschland unter dem Titel "Die Patchworkfamilie"), seit drei Staffeln Zuschauer- und Kritikerherzen erobert. Hierzulande griff die Beta-Film-Tochter good friends ("Arthurs Gesetz") zu und sicherte sich vor genau einem Jahr, auf der Series Mania im Mai 2018, die Formatrechte (DWDL.de berichtete). Was seither passierte, ist eine beispiellose Abfolge öffentlich-rechtlicher Entscheidungsfreude und Geschwindigkeit.

Während Schauspieler und Crew Mittagspause machen, nehmen Regisseurin Isabel Braak und fünf weitere Frauen an einem langen Holztisch in Lisas und Patricks Wohnzimmer Platz, um mit dem Medienmagazin DWDL.de über "Bonusfamilie" zu sprechen. Unter diesem Titel soll das deutsche Remake schon im Herbst zur Primetime in der ARD laufen. Sechs Folgen à 45 Minuten werden seit Mitte April und noch bis Anfang Juli gedreht. BR, MDR und SWR haben sich dafür zusammengetan. "Wir waren auf Anhieb von diesem Format begeistert, das mit so viel Wärme erzählt und das Thema Familie in den Mittelpunkt stellt. Diese Farbe hatten wir in letzter Zeit nicht so oft und können sie gut im Programm gebrauchen", sagt BR-Fictionchefin Bettina Ricklefs.

Drehstart © DWDL
Nachdem ihr die Serie von good friends angeboten worden war, holte sie ihre Kolleginnen Jana Brandt vom MDR und Barbara Biermann vom SWR ins Boot. Gemeinsam schlugen sie einen für ARD-Serien ungewöhnlichen Weg ein. "Bei der Entstehung von Serien der ARD-Gemeinschaftsredaktion haben wir in der Regel einen langen Vorlauf, um alle beteiligten Partner einzubinden", erklärt Jana Brandt. "Wir drei haben so gute Arbeitsbeziehungen aus gemeinsamen Einzelfilmen, dass wir uns dachten: Warum nicht mal ein bisschen mehr Serie machen über die definierten Sendeplätze im Ersten hinaus?" Bettina Ricklefs wird konkreter: "Wir drei waren uns sehr schnell einig und haben am Rande einer ARD-Koordinationssitzung innerhalb von Minuten entschieden, dass wir’s machen und gemeinsam finanzieren. Es ist eine Ausnahme, dass drei Fernsehspiel-Chefinnen gemeinsam ein Projekt redaktionell betreuen. Das funktioniert großartig, weil wir unsere Begeisterung teilen und so einfach schnelle Entscheidungen treffen können."

Die Konstellation auf kurzem Dienstweg hat zur Folge, dass "Bonusfamilie" im Ersten nicht auf dem klassischen Serienplatz am Dienstagabend ausgestrahlt wird, sondern drei Wochen lang in Doppelfolgen am Mittwoch um 20:15 Uhr, wo normalerweise TV-Movies laufen. Das außergewöhnlich hohe Tempo – ein Jahr seit Lizenzerwerb, neun Monate seit Beauftragung durch die Sender – hängt auch damit zusammen, dass es ein gut funktionierendes Original gibt. "Eine Adaption bietet natürlich die Chance, dass man sehr schnell sein kann. Das war für uns der Motor, diese Chance konsequent und in vollem Umfang zu nutzen", so Barbara Biermann. "Von der raschen Entscheidung für das Projekt bis zum Drehstart haben wir unseren ehrgeizigen Zeitplan gehalten. Das soll sich bis zur Ausstrahlung im Herbst so fortsetzen." Zudem hatte die Produktionsfirma frühzeitig Antonia Rothe-Liermann mit den Drehbüchern beauftragt, die als Autorin von "Doctor's Diary", "St. Maik" oder "Hanni und Nanni" reichlich Erfahrung mit Dramedy und Family Entertainment hat.

"Ein solches Format zu adaptieren, ist so, als ob man sich in seiner Lieblingsserie noch was wünschen darf"

Antonia Rothe-Liermann, Drehbuchautorin "Bonusfamilie"


"Ich kannte 'Bonus Family' vorher gar nicht", erzählt Rothe-Liermann. "Als ich hörte, dass es um eine Patchwork-Familie geht, war ich zunächst skeptisch, weil das ja schnell mal im Klischeetopf landen kann. Aber dann konnte ich überhaupt nicht aufhören, das schwedische Original zu gucken. Was mir unheimlich gut gefällt: Es ist super ehrlich. Es ist witzig, aber dabei leise und nicht plump. Es ist selbstironisch, aber nicht überheblich. Und es verliert nie seine Wärme. Ein solches Format zu adaptieren, ist quasi so, als ob man sich in seiner Lieblingsserie noch was wünschen darf. Zum Beispiel der einen oder anderen Figur noch mehr Raum und Tiefe zu geben." Tatsächlich erzählt die deutsche Version in sechs Folgen einen etwas anderen Handlungsbogen als die Vorlage mit ihren zehn Episoden der ersten Staffel. Manche Figuren wie Lisas Ex-Mann Martin oder Patricks Ex-Partnerin Katja, gespielt von Anna Schäfer, rücken stärker ins Zentrum, andere werden dafür im Vergleich zum Original verkleinert.

"Wir haben viel und umfangreich gecastet", berichtet Produzentin Sabina Arnold. "Für eine so ausgesprochene Ensembleserie reicht es nicht, Schauspieler mit tollen Einzelleistungen zu versammeln. Zwischen den Paaren und Ex-Paaren müssen Chemie und Zündstoff herrschen. Deshalb sind wir früh in Konstellationscastings gegangen und haben verschiedenste Mischungen ausprobiert. Außerdem haben wir über 180 Kinder gecastet." Noch bevor die Darsteller an der Reihe waren, musste auch die Regisseurin durch ein Casting, bei dem sie gegen mehrere männliche Mitbewerber antrat. "Bei den drei Fiction-Chefinnen anzutreten, war für mich das größte Regie-Casting, das ich bisher mitgemacht habe. Mich hat die Serie so mitgerissen, dass ich es unbedingt machen wollte", sagt die 30-jährige Isabel Braak, die neben der funk-Webserie "Der Wedding kommt" einige Folgen von "Magda macht das schon" oder "SOKO Potsdam" inszeniert hat. "Ich mag die skandinavische Art, Filme und Serien zu erzählen: lebensnah, authentisch und eher klein, weder zu dramatisch noch zu humoristisch. In Deutschland stecken wir oft strikter im Genre fest nach dem Motto: Drama ist Drama und Komödie ist Komödie."

Was es mit dem Regie-Casting auf sich hat, möchte Jana Brandt dann doch noch erläutern. Die Regie zu besetzen, sollte keine Frage von Namedropping sein, findet die MDR-Fictionchefin. "Ein Regie-Casting fragt nach einer Vision auf der Basis vorliegender Bücher und Figuren. Wir versuchen im Gespräch zu ergründen, mit wem wir den größtmöglichen Match für diese Vision haben. Ich finde es toll, dass Regisseurinnen und Regisseure in Deutschland dafür immer offener werden." Als Inez Bjørg David und Lucas Prisor mit ihren Filmkindern aus der Mittagspause zurückkommen, müssen die Macherinnen das Wohnzimmer von Lisa und Patrick schnell räumen. Schließlich wollen sie ja nicht mitten im Dreh das Tempo ihres Herzensprojekts "Bonusfamilie" drosseln.

Das schrieb DWDL.de über das schwedische Original