Herr Bauer, bei der Veröffentlichung der Nominierungen zum Deutschen Fernsehpreis haben Sie von einem "fast überhitzten Wettbewerb" gesprochen. Was ist denn ein "fast überhitzter Wettbewerb"?

Wolf Bauer: Erst einmal haben wir einen herausragenden Jahrgang, sowohl hinsichtlich des Programmvolumens als auch in der Ausdifferenzierung der inhaltlichen Qualität. Vor einigen Jahren hat sich die ganze Branche gefreut, dass neue Marktteilnehmer hinzugekommen sind, die originäres, deutsches Programm produzieren lassen. Im gesamten Produktionsvolumen ist der Markt also gewachsen. In der Folge ist sehr viel gutes Programm entstanden. Anfang dieses Jahres folgte schließlich der große Kater und viele Projekte sind kurzfristig abgesagt worden, am Ende hat sich ein Marktteilnehmer auch komplett aus der Produktion von deutschen Originals zurückgezogen.

Sie meinen Sky, das künftig keine fiktionalen Eigenproduktionen mehr beauftragen will.

Das wurde insgesamt als ein großes Problem für die Branchenentwicklung gesehen. Deshalb habe ich von "fast überhitzt" gesprochen: Wir haben Marktteilnehmer, die sich neu positionieren müssen. Das heißt aber auch immer, ein unverwechselbares Programmangebot zu machen. Wenn man in der aktuellen Marktsituation nachlässt in Vielfalt und Qualität, hat man in der Zukunft einen Nachteil. Wenn makroökonomische Wetterlagen in großen Unternehmen oftmals dazu führen, dass gespart wird, ist das aus meiner Sicht die falsche Politik. Jetzt werden die Marktanteile für die Zukunft definiert und das wird eine große Relevanz haben. Gefragt ist ein antizyklisches Handeln. Also liebe Marktteilnehmer: Jetzt kommt es drauf an. Gebt jetzt eure Budgets aus, macht Experimente und positioniert euch in den Zielgruppen, die euch für künftiges Wachstum interessant erscheinen! Jetzt nachzulassen halte ich für falsch.

Aber wenn der Markt jetzt schon fast überhitzt ist und alle kräftig weiter produzieren, würde das nicht heißen, dass die Überhitzung irgendwann tatsächlich eintritt?

Ich habe überhaupt nichts gegen einen überhitzten Markt. Das bedeutet nämlich starken Wettbewerb. Bei einer Überhitzung beschäftigt uns natürlich immer das Thema Engpässe und Fachkräftemangel, so war es ja auch schon in den zurückliegenden Jahren. Ich behaupte: Es gibt genügend kreative Köpfe. Wir haben doch gesehen, dass sehr viel Talent da ist und es kommen auch immer wieder sehr gut ausgebildete Nachwuchstalente nach. Der Nachwuchs will und muss zeigen, was er drauf hat. Und gerade dann trennt sich die Spreu vom Weizen, insofern ist die Überhitzung reizvoll.

Sie sprachen angesichts der Vielzahl an Produktionen von einem deutlich erhöhten Sichtungsaufwand für die Jury des Deutschen Fernsehpreises. Können Sie das beziffern?

Ich mache das jetzt im fünften Jahr und habe sicher 20 Prozent mehr Sichtungsvolumen, insgesamt dürften es rund 1.000 Stunden sein. Bei den Kolleginnen und Kollegen in der Jury kann ich es nicht so genau sagen, denn der Juryvorsitzende sichtet immer etwas mehr und beobachtet auch Programm, das von den Sendern nicht vorgeschlagen wird. Und das in allen Bereichen: Also Fiktion, Unterhaltung und Information/Sport. Viel zu sehen ist für mich wichtig, um mitreden zu können, wenn sich die verschiedenen Jury-Arbeitsgruppen treffen.

Wenn man in der aktuellen Marktsituation nachlässt in Vielfalt und Qualität, hat man in der Zukunft einen Nachteil.


Wann geht die Jury-Arbeit eigentlich los und wie viele Treffen hat es gegeben?

Weil wir wissen, was auf uns zukommt, beginnen wir schon Anfang Juli mit den Sichtungen für die Verleihung im jeweils nächsten Jahr. Im Herbst werden die ersten Listen erstellt und dann treffen wir uns. Weil Corona inzwischen nicht mehr so einen großen Einfluss hat, konnten wir uns wieder häufiger persönlich treffen. Neun solcher Meetings hat es gegeben. Hinzu kamen Videoschalten der verschiedenen Arbeitsgruppen, um sich auf das nächste physische Treffen gut vorzubereiten. Und dann bemühen wir uns nach teils heftigen Debatten, faire Nominierungslisten zu erstellen. Das ist kein einfacher Prozess: Es gibt viele Diskussionen, leidenschaftliche Plädoyers und durchaus auch strittige Positionen. Am Ende muss man sich zusammenraufen, das gelingt recht gut und wir diskutieren jedes Mal auf einem hohen Niveau. Aber klar: Irgendwo muss jeder mal eine Kröte schlucken und es hinnehmen, dass es eine Mehrheitsentscheidung gibt, mit der er oder sie nicht einverstanden ist.

Mussten Sie auch eine Kröte schlucken?

Ja, das musste ich. Welche Kröte das war, behalte ich aber für mich (lacht). Auch ich habe nur eine Stimme und bin nur dann das Zünglein an der Waage, wenn es zwischen zwei Formaten einen Gleichstand gibt.

Wo hat es in diesem Jahr heftige Debatten und strittige Positionen gegeben?

In jeder einzelnen der 30 Kategorien (lacht). In allen hatten wir Anlass, heftig zu diskutieren, weil Vielfalt und Angebot so groß waren. Ich kann mich an keine einzige Kategorie erinnern, die ein Selbstläufer gewesen wäre.

Gibt es einen Trend, der sich über alle Kategorien hinweg zieht?

Es ist die Zeit des Experimentierens: Das Nutzungsverhalten der Zuschauerinnen und Zuschauer differenziert sich nach wie vor weiter aus. Das hat dazu geführt, dass die Inhalteanbieter in der Zielgruppenansprache Neues ausprobieren. Diese Haltung und der Versuch, sich an internationales Niveau anzupassen, sind übergreifende Trends.

Insgesamt sehen wir in der Unterhaltung durchaus einen Innovationsbedarf.


Zum Experimentieren: In der Unterhaltung gibt es eine große Bandbreite an Formaten. Aber gerade in der Reality sind nur Formate nominiert, die schon einige Jahre auf dem Buckel haben. Sind diese Sendungen so stark oder das, was nachkommt, so schwach? Gibt es genug Innovationen in der Reality?

In der Unterhaltung sehen wir durchaus neue Formen. Das kann etwa ein Shiny-Floor-Format wie die "Giovanni Zarrella Show" sein, das neu aufgeladen etwas Besonderes ist. "That’s my Jam" ist eine komplett neue Show und "Wer stiehlt mir die Show" ist immer wieder so gut, weil der Gewinner die nächste Moderation bekommt und dadurch einen No­vi­tätscharakter hat. Es gibt also Neues, anderes ist schon länger dabei. Wir hatten schon oft die Diskussion darüber, dass die kreative Leistung, die in ein Programm fließt, das schon lange existiert, auch neue Zielgruppen oder vielleicht sogar eine ganz neue Generation ansprechen kann. Davor haben wir sehr großen Respekt, denn wir wissen alle, wie schwer das ist. Und ja, gerade in der Reality gibt es in diesem Jahr dieses Phänomen. Alle nominierten Formate sind Longburner, wie ich sie gerne nenne. Sie werden immer wieder aufs Neue attraktiv gemacht und sind daher völlig zurecht nominiert. Insgesamt sehen wir in der Unterhaltung aber durchaus einen Innovationsbedarf.

Können Sie das konkretisieren?

Der letzte große Trend in der Unterhaltung waren die Castingshows. Das liegt inzwischen schon wirklich lange zurück. Dieser Trend hat in der Folge verschiedene Ausformungen gefunden. Aber wo ist die nächste größere Innovation, die am Ende auch einen globalen Effekt hat? Darauf wartet die Branche weltweit.

Irgendwo muss jeder mal eine Kröte schlucken und es hinnehmen, dass es eine Mehrheitsentscheidung gibt, mit der er oder sie nicht einverstanden ist.


Wo waren Sie enttäuscht? Hat es Kategorien gegeben, die schon einmal stärker gewesen sind und von denen Sie sich mehr erhofft hatten?

Ich kann das definitiv nicht sagen. Mit Bester Fernsehfilm gibt es allerdings eine Kategorie, in der wir weniger als in der Vergangenheit zur Auswahl hatten. In der Nominierung haben wir da jetzt eine sehr starke Liste, aber ich hätte mir gewünscht, hier noch mehr Angebot zu haben. Das liegt auch daran, dass weniger Fernsehfilme beauftragt werden. Ansonsten haben wir oft darüber diskutiert, ob eine Produktion nun ein Mehrteiler ist oder eine Serie.

Etwas, worüber wir schon 2021 gesprochen haben

Ein Mehrteiler ist eigentlich eine abgeschlossene Geschichte, die wie ein Roman zu Ende erzählt wird. Aber bei Erfolg gibt es schon die Neigung in den Sendern oder bei den Streaminganbietern, das fortzusetzen. Da gibt es gewisse Unschärfen. Aber ich kann das verstehen: Wenn ein Programm besonders gut läuft, ergibt sich die Chance, eine starke Marke aufzubauen. Und die sind entscheidend für die Inhalteanbieter. Zuschauerinnen und Zuschauer interessieren sich nicht für Sendermarken, sondern für Programmmarken. Die klassischen TV-Sender haben solche Marken über Jahre hinweg aufgebaut, die Streaminganbieter haben das erst noch vor sich. Die Streamingdienste haben lange nach dem Prinzip der Vielfalt beauftragt und das war sicherlich auch richtig. Bei der Frage, wie man Abonnentinnen und Abonnenten hält und gleichzeitig neue hinzugewinnt, geht es aber um Markenaufbau.

In der Fiktion haben die Streamer in den Kategorien Beste Drama Serie und Beste Comedy Serie erstmals mehr Nominierungen als die klassischen TV-Sender. Ist das einem starken Jahr bei den Streamern geschuldet oder ist das schon eine Trendwende in den Machtverhältnissen?

Das zeigt, dass der Wettbewerb die Ambitionen erhöht und die Lust auf Neues, möglicherweise auch Mischformen steigt. In "Kleo" wird die Geschichte einer Profi-Killerin aus der ehemaligen DDR auf einem Rachefeldzug dramatisch, komisch und sarkastisch erzählt. Das ist durchaus eine gewagte Mischung von Genres. Oder "Die Kaiserin": Da gibt es das gleiche Sujet wie bei "Sisi", aber anders interpretiert. Auch hier sehen wir eine offensichtliche Lust auf Experimente. Das wird vom Publikum belohnt und deshalb werden wir mehr davon sehen. Die klassischen TV-Teilnehmer lassen sich davon aber nicht in den Schatten stellen, das sehen Sie beim Blick auf die Nominierungslisten.

Wenn Sie einen Wunsch frei hätten: Was würden Sie sich von den Produktionsfirmen, Sendern und Streamern inhaltlich für die Zukunft wünschen?

Dass sie sich die Experimentierfreude behalten und noch weiter befeuern. Das funktioniert in einem verschärften Wettbewerb am besten. Wir sehen das an dem diesjährigen Nominierungsergebnis: Dort, wo die Lust am Experimentieren und an der Innovation sowie die Übernahme von Risiken besonders ausgeprägt war, gibt es die meisten Nominierungswürdigen. Das ist eine gute Botschaft: Das Risiko, etwas Neues in hoher Qualität umzusetzen, lohnt sich.

Herr Bauer, vielen Dank für das Gespräch!