Wenn es so etwas wie eine Aufnahmeprüfung fürs deutsche Fernsehen gäbe: Thilo Mischke hätte sie gleich mehrfach bestanden. Er hat sich durch den öden ZDFneo-Sextalk "Heiß & fettig" geplaudert, für die "Galileo"-Aktion "We are watching you" in einem gläsernen Container in der Essener Fußgängerzone tagelang von an die Scheibe klopfenden Passanten ärgern lassen, um den Wert von Privatsphäre zu demonstrieren, und ist für den RTLzwei-Doku-Exkurs "Echtzeit" den Spuren des Zombiekults hinterhergereist. Mit ein bisschen Pech hätte diese Karriere jederzeit in die Moderation von "taff" abdriften können. Es ist dann aber glücklicherweise doch anders gekommen.
Mit teilweise waghalsigen Auslandsexpeditionen in den Kongo, nach El Salvador und ins syrische Grenzgebiet hat sich Mischke für die Reportage-Reihe "Uncovered" Respekt bei Publikum und Kritik erarbeitet. Und es gerade mit dem ProSieben-Spezial "Rechts. Deutsch. Radikal" geschafft, einen Zwei-Stunden-Film zur Ausbreitung rechtsnationaler Einflüsse im Land abzuliefern, über den tagelang diskutiert wurde – auch weil sich die AfD dazu veranlasst sah, wegen der gezeigten Undercover-Szenen personelle Konsequenzen zu ziehen.
"Wir sind alle ein bisschen im Arsch", verriet Mischke am Ende einer anstrengenden Woche anschließend in seinem Podcast. Bevor ProSieben am vergangenen Montag dann noch seine jüngste Recherche "Von Armut bedroht" hinterher schob, erneut zur besten Sendezeit.
Ziemlich casual, aber gut vorbereitet
Inzwischen hat sich der Wirbel wieder ein bisschen gelegt. Der neue Film wurde nur noch von halb so vielen Leuten gesehen wie das wahnsinnig dicht erzählte "Rechts. Deutsch. Radikal". Dabei entfaltet "Von Armut bedroht" (Buch und Regie von Stefan Kauertz, Film Five) seine volle Wirkung erst mit einigen Tagen Abstand, wenn einem bewusst wird, wie eindrücklich Mischke die Vielschichtigkeit eine Problematik beschrieben hat, die in der öffentlichen Debatte sonst oft stark verkürzt wird.
Nebenbei demonstrierte "Von Armut bedroht" – klarer als viele der Auslandsreportagen –, wie es Mischke in den vergangenen Jahren gelungen ist, einen Reportagestil zu etablieren, der auch von jüngeren Zuschauerinnen und Zuschauern wahr- und angenommen wird. Nämlich nicht als klassischer Reporter mit Handmikrofon und Stehkragen, sondern eher einer Art Come-as-you-are-Journalismus: ziemlich casual, aber trotzdem gut vorbereitet.
Mischkes Art ist es nicht, anderen investigativ auf die Pelle zu rücken. (Außer wenn es sich, wie zum Schluss von "Rechts. Deutsch. Radikal" halt ergibt.) Es geht ihm nicht darum, möglichst viel Eindruck bei Protagonistinnen und Protagonisten zu schinden, sondern ihnen ganz im Gegenteil das Gefühl zu vermitteln, sich auf das Gespräch einlassen zu können, ohne an die mitlaufende Kamera denken zu müssen.
Näher dran als erlaubt?
Dafür rauscht er nicht im Transporter mit Senderlogo heran, sondern steigt in Kapuzenpulli, Jeans und Sneakern aus seinem Kombi. Er setzt sich in Socken bei seinem Gesprächspartner daheim aufs Sofa, geht abends mit auf ein Bier in die Stammkneipe und quetscht sich auf den Rücksitz im Kleinwagen seiner Protagonistin, um auf dem Weg zur Putzschicht im Drogeriemarkt noch zu schnacken. Mischke ist viel, viel näher dran als es die journalistische Distanz, wie sie an den Reporterschulen gelehrt wird, erlaubt.
Aber wer legt eigentlich fest, dass das, was an Reporterschulen gelehrt wird, immer noch stimmt?
Mischke hat seine eigene Form des "embedded journalism" entwickelt, die daraus besteht, sich während des Drehs sozusagen selbst in die gewohnte Umgebung der Menschen einzubetten, die ihn interessieren. Das gilt für Hoffnungsträger der rechten Szene, die er auf Demos begleitet, genau so wie für den Deutschen, der an der syrischen Grenze aus freiem Willen gegen den IS kämpft ("An fremder Front"), und den Langzeitarbeitslosen in Sachsen, der sich mit ehrenamtlicher Arbeit für andere einsetzt, aber selbst keinen bezahlten Job findet.
Der Schnitt sagt: Sei mit dabei!
"Ich trete da von meiner Rolle als Journalist zurück und bin einfach Thilo. Diese Rolle aufrecht zu erhalten, bereitet mir auch gar keine Freude", hat er im "Uncovered"-Podcast verraten. "Es ist eher so: Der Zuschauer ist dabei, wenn ich Dinge erfahre für mich. (…) Der Schnitt und der Text [sagen]: Sei mit dabei!" So wirken auch schwere Themen zugänglich.
Um das Erlebte für sein Publikum zu reflektieren, versucht Mischke, sich in die Personen hineinzuversetzen, die er getroffen hat. Dafür läuft er in einer Art laut gedachter Reflektion auf die Kamera zu die Straße hinunter, egal ob in Berlin-Lichtenberg, im bayerischen Moosach oder einem nordirakischen Dorf.
Er fragt nicht nur persönlich, er nimmt Themen persönlich, indem er das Erzählte mit den eigenen Werten und Erfahrungen abgleicht. "Mein Name ist Thilo Mischke, ich bin Journalist und in dieser Straße bin ich groß geworden", fängt er "Von Armut bedroht" an und lässt sein Publikum daran teilhaben, was ihn zu der folgenden Recherche motiviert hat.
Über deutsche Autobahnen
Manchmal wirken seine Reportagen ein bisschen wie Roadmovies – so wie im (nicht ganz so starken) Spezial "Deutschlands Weg aus der Corona-Krise", für das er mit seinem Team im März und April dieses Jahres einmal quer durchs Land über leere Autobahnen gefahren ist, um mit Katastrophenforschern, Bundeswehr-Offizieren und Seuchenschutzexperten darüber zu sprechen, wie es weitergeht. (Was mit dem Wissensstand von heute zum Teil rührend naiv wirkt: "Es gibt auch eine Zeit nach Covid-19, und die wird cool!" – "Dann ist nämlich Sommer!" – "Genau.")
Natürlich lässt sich über diese Art, Reportagen zu machen, vortrefflich streiten. Der 39-Jährige ist schon gewohnt, vorgeworfen zu kriegen, sich nicht an die journalistischen Neutralitätsregeln zu halten. Aber dann ist das "ebend", wie Mischke sagen würde, so.
Zumal sich kaum bestreiten lässt, dass er damit einen Nerv trifft, und zwar bei einer Zielgruppe, die sonst eher kein klassisches Reportagefernsehen einschalten würde. Das liegt auch daran, dass er als "Stellvertreter der Zuschauer" oft eher einfache Fragen stellt – aber halt die richtigen: Wie bis du dazu gekommen? Warum fasziniert dich das? Was treibt dich an? Wie gehst du damit um?
Verführerische Nachvollziehbarkeit
Gleichwohl spielt Mischke mit dem Risiko, durch seine Methode nicht nur unproblematische Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner nachvollziehbar werden zu lassen – sondern im Zweifel auch die anderen. Dagegen anzuarbeiten, ist harte Arbeit. Aber er hat oft keine andere Wahl, als in seinen Interviews immer wieder selbst Stellung zu beziehen: "Wie könnt ihr provozieren mit etwas, das soviel Leid verursacht hat", geht er die Rechten an, die nur notdürftig verklausuliertes Nazi-Merchandising verkaufen; er provoziert den "Kampf der Nibelungen"-Organisator Alexander Deptolla: "Erklär mir die Faszination an der rechten Idee, die global gescheitert ist"; und legt offen, wenn sich sein Gegenüber in Widersprüche verstrickt: "Das ist ein Logikbruch!"
Das kann nur so lange gutgehen, wie Mischke die Oberhand über die Gespräche behält. Es führt aber auch zu Interview-Situationen, die es in dieser Form im deutschen Fernsehen eher selten gibt.
Wenn die rechte Youtuberin Lisa L. im Bundestag mitten im Gespräch mit ihm in Tränen ausbricht, weil ihr das Ausmaß der Bedrohung klar wird, in die sie sich hineingesendet hat, muss Mischke sich sichtlich zurückhalten, nicht auch noch den letzten Zentimeter Distanz aufzugeben – und steht ratlos mit offenem Mund und übereinander gekreuzten Beinen da.
"Ich werde nie auf eurer Seite stehen"
Der Moment ist stark und krass und grenzwertig. Aber er funktioniert, weil es Mischke zweifellos gelingt, Interviewpartnerinnen und -partnern den Eindruck zu vermitteln, einer zu sein, dem man sich anvertrauen kann. Notfalls auch zum Streiten, wenn von vornherein geklärt ist, dass man an gegensätzlichen Fronten kämpft. "Ich werde nie auf eurer Seite stehen", sagt er denen, die sich ein "neues Deutschland" wünschen, und fragt: "Was passiert dann da mit mir?" Durch Ehrlichkeit und Abgrenzung baut er Vertrauen auf, und schafft es dadurch, auf Augenhöhe zu diskutieren. Mischke nimmt sich die Freiheit, zu urteilen – ohne zu verurteilen.
Mit diesem Art Journalismus tun sich viele seiner Kolleginnen und Kollegen, vor allem in Deutschland, schwer. Und vielleicht ist das auch gut so, weil diese Distanzauflösung schnell aufgesetzt wirken und noch schneller schief gehen kann.
Gleichzeitig ist Mischkes Art, mit Menschen zu reden, aber so viel ehrlicher und direkter als der klassische Lehrjournalismus, dem – all seiner Regeln zum Trotz – eine größer werdende Zahl an Menschen immer weniger vertraut. Vielleicht ist es an der Zeit, zu überlegen, ob es Wege gibt, das zu ändern. Zu überlegen, ob sich Journalistinnen und Journalisten Mühe geben müssen, nicht wie Fremdkörper auf diejenigen zu wirken, über die sie berichten wollen. Und an welcher Stelle dabei die Grenzen gezogen werden sollten. Es müssen sich ja vielleicht nicht gleich alle gelbe Pullis, Jeans und Sneaker dafür anziehen.
Und damit: zurück nach Köln.
"Rechts. Deutsch. Radikal" und "Von Armut bedroht" sind bei Joyn abrufbar, "Deutschlands Weg aus der Corona-Krise" nur mit Joyn-Plus-Abo.